Tolstois Albtraum - Roman
mit einer stark selektiven Wirkung. Es wirkt nicht bei Menschen, die tief und vorbehaltlos glauben.«
»An wen? An Gott?«
»An die Vorsehung, die Höchste Kraft, die Wahrheit, an Buddha oder an Allah – egal, wie Sie es nennen, wenn der Glaube nur aufrichtig ist. Früher verwendeten die indianischen Zauberer das Gift für ihre magischen Rituale, und während der Konquista erkannten sie dann seine Eigenschaften, weil es bei einigen katholischen Missionaren keine Wirkung zeigte, während es die normalen Konquistadoren tötete …«
T. blickte auf den mit Leichen übersäten Boden. An der Brust des Ruderers, der am nächsten lag, blinkte unter dem groben Tuchhemd ein kupfernes Kreuz.
»Man hat also«, fuhr Knopf selbstzufrieden fort, »vor der Exekution all diesen Unglücklichen, die Herrin eingeschlossen, angeboten zu beten. Wie Sie sehen, fand sich bei keinem von ihnen auch nur ein senfkorngroßer Glaube.«
T. blickte zur Leiche der Fürstin Tarakanowa.
»Aber warum hat Ihr Amazonas-Pack diese arme Frau umgebracht, die nie einer Fliege etwas zuleide getan hat?«
»Stellen Sie sich die Schlagzeilen der Petersburger Zeitungen vor«, sagte Knopf. »›Brand auf der Jacht einer wahnsinnigen Gutsbesitzerin …‹ Oder: ›Exkommunizierter Graf feiert flammende Verlobung mit heidnischer Fürstin …‹ Ein extravaganter Tod erregt keinerlei Verdacht. Kein Gerichtsmediziner wird die winzigen Verletzungen an den verbrannten Leichen entdecken.«
T. schob langsam seinen Fuß vor, trat auf das Seilende und hielt es zu Boden gedrückt.
»Und Ihr antiker Helm«, fuhr Knopf fort, »dient als weiteres Beweisstück für die seit langem kursierenden Gerüchte über Ihre Geistesgestörtheit, Graf.«
Bei diesen Worten tippte er sich mit den Fingern an den Kopf.
»Nicht schlecht, Knopf«, sagte T. »Aber es gibt einen Schwachpunkt in Ihren Überlegungen.«
»Nämlich welchen?«
»Sie haben Ihre Aufmerksamkeit auf meinen Helm gerichtet. Aber nicht auf den Speer.«
T. nahm die Sarissa in die freie Hand und zeigte sie Knopf. Der verzog die Lippen zu einem Lächeln.
»Ihre Hartnäckigkeit nötigt mir Respekt ab – auch wenn sie natürlich Kraft und Zeit verschwendet. Was ist denn nun mit Ihrem berühmten Prinzip des gewaltlosen Widerstands gegen das Böse? Ich fürchte, das können Sie in diesem stinkenden Schiffsraum nicht in vollem Umfang einhalten …«
»Ihre Sorge um meine Prinzipien ist ausgesprochen rührend«, erwiderte T. »Aber ich befolge sie immer den Umständen entsprechend.«
»Also dann«, schnurrte Knopf, »wollen wir mal herausfinden, ob Sie den wahren Glauben haben … Das würden Sie selbst doch sicher auch furchtbar gern wissen?«
Er steckte seine scheußliche Zigarettenspitze in den Mund und stieß zwei heisere Pfeiftöne aus.
Plötzlich hatten die befrackten Indianer kurze Blasrohre in den Händen, die sie blitzschnell an die Lippen setzten. Im selben Augenblick ging T. in die Hocke und hielt den Schild schützend vor sich. Laute, ploppende Geräusche auf Metall waren zu hören, gefolgt von T.s drohendem Schrei:
»Achtung!«
Er schleuderte den Speer auf den Indianer, der am nächsten war.
Ein dumpfes Geheul erklang – eher tierisch als menschlich. Der Unglückliche ging zu Boden. T. zog das Seil heran, und der blutbeschmierte Speer befand sich wieder in seiner Hand.
»Achtung!«, schrie er wieder.
Ein Wurf, und der nächste Zwerg ging neben dem ersten zu Boden. Der dritte konnte noch sein Blasrohr nachladen und schießen, bevor ihn der Speer niederstreckte. Ein spitzer Stachel bohrte sich in T.s Schulter.
Im selben Augenblick hatte er einen metallischen Geschmack im Mund, sein Kopf dröhnte, und bunte Punkte tanzten vor seinen Augen.
»Ariel«, dachte er, »Ariel …«
Sofort lichtete sich der Schleier vor seinen Augen, und der Schwindel verschwand ebenso unvermittelt, wie er begonnen hatte.
Zwei weitere Giftpfeile trafen T., der eine drang ins Bein, der andere in die Handfläche. Doch das Gift zeigte keine Wirkung mehr, und bald stürzte der letzte Befrackte blutüberströmt zu Boden.
»Achtung …«, stieß T. heiser hervor.
»Dieses Mal kommt Ihr Abschiedswort etwas spät«, bemerkte Knopf melancholisch. »Im Übrigen konnte der arme Kerl ohnehin kein Russisch … Sie überraschen mich immer wieder, Graf, und zwar unangenehm.«
Er zog seinen Revolver aus der Jackentasche und ging rückwärts zur Treppe. T. hielt den Schild vor sich und folgte ihm. Ein Schuss knallte. Die Kugel
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