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Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)

Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)

Titel: Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Fielding
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herbeischaffen. Eine hinlängliche Kenntnis der Geschichte und der schönen Wissenschaften ist hier durchaus notwendig; und ohne zum wenigsten diesen Grad von Wissenschaft zu besitzen, ist es ebenso vergebens nach dem Charakter eines Geschichtschreibers zu streben, als wenn man ohne Holz, Stein und [148] Kalk ein Haus zu bauen versuchen wollte. Homer und Milton, ob sie gleich ihre Werke durch die Sprache der Dichtkunst verschönerten, waren beide Geschichtschreiber von unsrer Klasse, und besaßen alle Gelehrsamkeit, die man zu ihren Zeiten besitzen konnte.
    Noch mehr, es gibt eine andere Art von Wissenschaft, welche zu gewähren nicht in der Macht der Gelehrsamkeit steht und die sich bloß aus dem Umgange erlernen läßt. Diese ist nun so notwendig, um die Charaktere der Menschen verstehen zu lernen, da kein Mensch darin unwissender ist als jene gelehrten Pedanten, die ihr ganzes Leben auf ihren Studierzimmern und unter Büchern hingebracht haben. Denn so vortrefflich auch die Geschichte der Menschheit von den Gelehrten in Büchern geschrieben sein mag, so kann doch das wahre praktische System nirgends an ders, als in der lebendigen Welt erlernt werden. Mit allen übrigen Arten von Wissenschaften ist es in der That ebenderselbe Fall; weder die Arzneikunde, noch die Jurisprudenz lassen sich praktisch aus Büchern lernen. Ja, sogar der Landwirt, der Förster, der Gärtner müssen durch Erfahrungen dasjenige zur Vollkommenheit bringen, wozu sie durch Lesen die ersten Anfangsgründe erworben haben. Der gelehrte Botaniker mag eine Pflanze noch so genau und richtig beschrieben haben, so wird er seinen Zöglingen doch immer raten, solche im Garten selbst in genauen Augenschein zu nehmen. Sowie wir gestehen müssen, daß bei den feinsten Zügen eines Shakespeares, Johnsons, Wycherlys, oder Otways dennoch dem Leser einige Tuschen der Natur entwischen, welche ihm die aus dem Innern der Charaktere gezogenen Aktionen eines Garriks, einer Cibber, oder einer Clive 1 anschaulich machen [149] können, so zeigt sich auf der Bühne des Lebens ein Charakter in einem weit stärkern und kühnern Lichte, als er auf dem Papier beschrieben werden kann. Und wenn dieses bei solchen feinen und markigen Beschreibungen, welche große Schriftsteller selbst nach dem Leben gemacht haben, der Fall ist, wie ungleich mehr muß es denn nicht stattfinden, wenn der Autor seine Züge nicht selbst von der Natur, sondern aus Büchern entlehnt! Solche Charakterzeichnungen sind weiter nichts als matte Kopien von einer Kopie, und können weder die Richtigkeit noch die Schärfe eines Originals haben.
    Nun aber muß dieser Umgang unsers Geschichtsschreibers allgemein sein, das heißt er muß sich auf alle Stände und Klassen der Menschen erstrecken, denn die Kenntnis dessen, was man feine Welt nennt, wird ihm keinen Unterricht über die Klassen des gemeinen Lebens erteilen und so umgekehrt wird die Bekanntschaft mit der niedern Klasse der Menschheit ihm keinen Begriff von den Sitten der höhern geben. Und obgleich man dafür halten möchte, die Kenntnis der einen oder der andern würde hinreichen, um ihn instandzusetzen, wenigstens diejenige richtig darzustellen, mit welcher er gelebt hat, so wird er doch sogar hierin keine Vollkommenheit erreichen, denn eigentlich werfen beide Klassen eine auf die andere wechselsweise das wahre Licht. So erscheint zum Beispiel die gezierte Künstelei des vornehmen Lebens viel heller und lächerlicher durch die kunstlose Einfalt des gemeinen Mannes. Und die Grobheit und Barbarei des letztern erwecken viel stärkere Ideen vom Unschicklichen, wenn sie durch die feine Politur kontrapostiert werden, wodurch sich die ersten auszeichnen. Ueberdem noch werden sich, die Wahrheit zu sagen, die Sitten unsers Geschichtschreibers durch den Umgang unter beiden verbessern; denn unter den einen wird er leicht Beispiele von Treuherzigkeit, Redlichkeit und Aufrichtigkeit finden, sowie unter den andern von Feinheit, Eleganz und von einem gewissen Adel des Geistes. Welche letzte Eigenschaft ich mich kaum erinnere, unter Menschen von niedrigem Stand und Erziehung angetroffen zu haben.
    Unterdessen werden alle die Eigenschaften, die ich bisher meinem Geschichtschreiber beigelegt habe, ihm wenig helfen, wofern er nicht auch noch das besitzt, was man gewöhnlich ein gutes Herz nennt, und wenn seine Empfindungen nicht fein und beweglich sind. Der [150] Schriftsteller, sagt Horaz, welcher will, daß ich weinen soll, muß erst selbst weinen. Wirklich

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