Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
sagte die Tante, »willst du leugnen, daß du noch gestern einen Brief von ihm empfangen hast?« – »Einen Brief, gnädige Tante?« antwortete Sophie ein wenig bestürzt. – »Ich verbitte mir die Unhöflichkeit, Jüngferchen,« versetzte die Tante, »mir meine Worte nachzusprechen! Ich sage einen Brief! Ja! und ich verlange, ohne viel Weitläufigkeit, daß du mir ihn zeigst.« – »Das Lügen ist nicht meine Sache!« sagte Sophie. »Ich habe freilich einen Brief empfangen, aber ohne mein Begehren, und ich kann wirklich sagen wider meinen Willen.« – »Wirklich, wirklich, Jüngferchen?« schrie die Tante. »Du solltest dich schämen, es zu gestehn, daß du ihn überhaupt angenommen hast! Aber wo ist der Brief, denn ich will ihn sehn!«
Sophie besann sich ein wenig, bevor sie auf dieses gebieterische Begehren eine Antwort erteilte, und entschuldigte sich endlich bloß damit, daß sie erklärte, sie habe den Brief nicht bei sich, welches in der That wahr war. Worauf die Tante, der nun vollends alle Geduld riß, ihrer Nichte die kurze Frage vorlegte: ob sie sich entschließen wollte, den Grafen zu heiraten oder nicht? Worauf sie die stärkste Verneinung erhielt. Ihro Hochwohlgeboren Gnaden Fräulein Tante von Western geruhten hierauf mit einem wackern Fluch oder etwas dem ähnlichen zu beteuern, daß sie ihre ungehorsame Niece gleich des nächsten Morgens früh den Händen ihres Vaters überantworten wollte.
Sophie begann hierauf sich mit ihrer Tante folgendermaßen in Gründe und Gegengründe einzulassen: »Warum, gnädigste Tante, soll ich denn überhaupt gezwungen werden zu heiraten? Ueberlegen Sie doch, ich bitte, für wie grausam Sie das in Ihrem eigenen [242] Falle gehalten haben würden, und wie weit gütiger Ihre Eltern gegen Sie waren, daß sie Ihnen Ihre eigene Freiheit ließen. Was hab' ich gethan, wodurch ich diese Freiheit verwirkt hätte? Ich will niemals heiraten, weder gegen die Einwilligung meines Vaters, noch auch ohne vorher Sie um die Ihrige zu bitten. Und sollt' ich darum bitten, und einer von beiden sollte glauben, sie mir verweigern zu müssen, so ist es ja alsdann noch immer Zeit genug, mich zu einer andern Verbindung zu nötigen.« – »Wie ich so was nur noch anhören kann!« rief die Tante, »von einem Mädchen, die grade in diesem Augenblick einen Brief von einem Mörder in der Tasche hat?« – »Ich habe keinen solchen Brief bei mir, versichere ich Sie,« antwortete Sophie; »und wenn er ein Mörder ist, so wird er bald in solche Umstände kommen, worin er Ihnen keine ferneren Besorgnisse erwecken kann.« – »Wie? Fräulein von Western,« sagte die Tante, »kannst du die Frechheit haben, auf diese Weise von ihm zu sprechen, und mir ins Angesicht deine Liebe für einen solchen Schuft zu gestehen!« – »In Wahrheit, gnädigste Tante,« sagte Sophie, »Sie geben meinen Worten eine sonderbare Auslegung.« – »In Wahrheit, gnädiges Fräulein von Western,« schrie die Tante, »ich werde diese Begegnung nicht länger dulden! Diese Art mit mir umzugehen, hast du von deinem Vater gelernt. Er hat dich gelehrt mich Lügen zu strafen. Er hat dich durch sein falsches Edukationssystem durch und durch verzogen; und, wenn es Gottes Wille ist, so wird er noch die Freude erleben, die Früchte davon einzuernten. Noch einmal sag' ich's dir, morgen früh will ich dich wieder zu ihm bringen. Ich will alle meine Hilfstruppen aus dem Felde ziehen und hinfüro, wie der weise König von Preußen, mich völlig neutral verhalten. Ihr seid beide viel zu weise, um euch an meine Maßregeln zu halten. Und somit richte dich darauf ein, denn morgen früh sollst du mein Haus räumen.«
Sophie that alle Gegenvorstellungen, deren sie fähig war; aber ihre Tante war taub gegen alles, was sie sagte. In dieser Entschließung müssen wir sie jetzt verlassen, weil gar keine Hoffnung vorhanden zu sein scheint, sie davon abzubringen.
Neuntes Kapitel.
Was dem Herrn Jones im Gefängnis begegnete.
Herr Jones brachte über vierundzwanzig melancholische Stunden allein im Gefängnisse hin, ausgenommen, wenn ihn die Gesellschaft Rebhuhns ein wenig aufrichtete, bevor sein Freund Nachtigall wieder zu ihm kam; nicht, als ob dieser würdige junge Mann einen Freund verlassen und versäumt hätte; denn in der That hatte er den größten Teil dieser Zeit darauf verwendet, ihm Dienste zu leisten.
Bei angestellter Erkundigung hatte er vernommen, daß niemand den Anfang des unglücklichen Renkontres mit angesehen habe,
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