Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Leiche, der das Team schlagartig aktiv werden ließ. Eine Leiche, die sich dem Messer ergeben und ihre Geschichte preisgeben würde, die Geschichte, die hinter dieser Reise zu einem kalten, stählernen Seziertisch stand; flüsternd würden das tote Fleisch und die verhärteten Organe ihre Geheimnisse enthüllen. Auf diesem Gebiet war der Pathologe der Fachmann.
Obwohl er und Hendricks sich gut verstanden, war Thorne beruflich betrachtet ab diesem Punkt der Ermittlungen froh, wenn er ihn nicht noch einmal zu sehen bekam.
»Wir gehen davon aus, dass sie am siebenundzwanzigsten irgendwann zwischen sieben und zehn Uhr abends getötet wurde. Als sie aufgefunden wurde, war sie etwa achtundvierzig Stunden tot.«
Sein ausgeprägter Manchesterakzent schien wie dafür gemacht, um nüchtern und präzise die banale Realität echten Grauens auszudrücken. Thorne konnte den unaussprechlichen Gedanken in den Gesichtern der um den Tisch sitzenden Beteiligten sehen.
Wie erlebte Charlie Garner diese zwei Tage!
»Es gibt keine Anzeichen von sexuellem Missbrauch und keinen Hinweis, dass sie sich nennenswert wehrte. Die offensichtliche Folgerung daraus lautet, dass der Mörder das Kind bedrohte.« Hendricks zögerte und atmete tief durch. »Er erwürgte Carol Garner mit bloßen Händen.«
»Scheißkerl …«
Thorne warf einen Blick nach links. Detective Sergeant Sarah McEvoy starrte in die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Thorne wartete, doch sie schien für den Augenblick alles gesagt zu haben, was sie beschäftigte. Von allen im Raum Anwesenden kannte Thorne sie am kürzesten. Und bislang war sie für ihn ein unbeschriebenes Blatt. Sie war tough, zweifelsohne, und mehr als begabt. Aber irgendetwas an ihr machte Thorne misstrauisch. Sie verbarg etwas.
Die Stimme von Detective Constable Dave Holland riss Thorne aus seinen Gedanken. »Gehen wir davon aus, dass er sie wegen des Kinds auswählte?«
Thorne nickte. »Es war ihr Schwachpunkt. Ja, vermutlich war es so …«
Brigstocke fiel ihm ins Wort. »Aber es ist nicht wirklich von Bedeutung.«
»Nicht wirklich von Bedeutung?« Holland klang zutiefst verwirrt und blickte hinüber zu seinem Chef.
Thorne erwiderte den Blick achselzuckend. Abwarten, Dave …
Es lag nun ein gutes Jahr zurück, seit Thorne mit Dave Holland zusammenarbeitete. Und endlich fing er an, annähernd erwachsen auszusehen. Seine Haare waren noch immer etwas zu blond und zu weich, aber die Gesichtszüge darunter wirkten neuerdings ein wenig härter. Thorne war klar, dass das weniger mit dem Alter als mit den Erfahrungen zusammenhing, die Holland gemacht hatte. Abnutzungserscheinungen. Das unschuldigste Gesicht musste sich verdunkeln in Anbetracht der Dinge, die der Job so mit sich brachte.
Die Veränderung hatte mit ihrem ersten gemeinsamen Fall begonnen. Drei Monate, in denen Thorne Freunde verloren und Feinde gewonnen hatte, in denen Dave Holland sich ihm angenähert, ihn beobachtet und absorbiert hatte, und darüber ein anderer geworden war. Drei Monate, die mit dem Schnitt eines Skalpells in einem blutgetränkten Dachboden in Südlondon geendet hatten.
Holland hatte vieles gelernt und verlernt, und Thorne hatte dabei zugesehen – stolz und zugleich traurig. Es war ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte: Schloss das einander aus – ein guter Bulle und ein guter Mensch zu sein?
Zunehmende Desensibilisierung mochte gut und schön sein, aber dafür war ein Preis zu zahlen. Er erinnerte sich an ein warnendes Plakat, das er im Wartezimmer eines Zahnarztes gesehen hatte: die eindrückliche Darstellung eines Patienten, der sich die Lippe abgebissen hatte bei dem Versuch, die lokale Betäubung zu »prüfen«. Man konnte beißen und beißen, ohne das Geringste zu spüren, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Betäubung nachließ, und dann kam der Schmerz, das stand fest.
Auch das Gefühl der Taubheit würde weichen. Das betraf die Kollegen, die Thorne dabei beobachtete, wie sie Tag für Tag in ihrer jeweils spezifischen Rüstung zu überstehen trachteten. Ob sie diese in ihrem Kopf fabriziert hatten oder aus einer Flasche bezogen, eines Tages war sie sicherlich abgenutzt, und dann wäre die Agonie unerträglich. Das war nicht der Weg, den Tom Thorne für sich gewählt hatte, und sein Instinkt sagte ihm, dass es genauso wenig Hollands Weg war, trotz seiner Hoppla-jetzt-komm-ich-Tour und der ganzen Scheiße, die er gelernt hatte.
Der gute Bulle und der gute Mensch. Wahrscheinlich schlossen
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