Tom Thorne 04 - Blutzeichen
das Band mitgenommen.«
»Da hat er was für seine Enkelkinder …«
Holland bückte sich und deutete mit einem Kugelschreiber auf den Nacken der Toten. »Eine Zweiundzwanziger, was meinen Sie?«
Nun sah Thorne die Blutlache. Das dünne Rinnsal lief wie ein feines Halsband um ihren Nacken und bildete eine klebrige Pfütze zwischen ihrem Kinn und dem grauen Industrieteppich. »Sieht ganz danach aus«, meinte er. Er war bereits auf dem Weg zum Hinterzimmer. Auf dem Weg zu einem vermutlich schwierigen Gespräch …
Constable Terry stand auf, als Thorne durch die Tür kam. Thorne winkte ab, er solle sich wieder setzen. »Wie heißt der Junge?«
Der Junge antwortete selbst. »Yusuf Izzigil.«
Thorne schätzte ihn auf siebzehn. Wahrscheinlich machte er an der Schule gerade seine A-Levels. Er hatte sich die kurzen Haare mit Gel aufgestellt, und sein Versuch, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, ließ sich ganz ordentlich an. Die Hysterie, von der Holland gesprochen hatte und durch die die Polizei zunächst aufmerksam geworden war, war einer Ruhe gewichen. Er wirkte jetzt still und scheinbar gefasst, doch die Tränen traten ihm immer wieder in die Augen, woraufhin er sie bestimmt mit dem Handrücken wegwischte, sobald sie ihm über die Wangen zu laufen drohten.
Er fing an zu sprechen, ohne gefragt zu werden. »Ich machte mich gerade oben fertig. Mein Vater ging immer nach acht Uhr runter, um sich um die Videobänder zu kümmern, die nachts zurückgegeben wurden. Meine Mutter half ihm dabei, wenn sie den Frühstückstisch abgeräumt hatte.« Er sprach gewandt, langsam, ohne jede Spur eines Akzents. Da erst fiel Thorne auf, dass der rotbraune Pullover und die graue Hose eine Uniform waren und der Junge offensichtlich eine Privatschule besuchte.
»Du hast also nichts gehört?«, fragte Thorne. »Keinen Streit, nichts?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe die Türglocke gehört, als jemand die Tür öffnete, aber das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aber etwas früh war es schon?«
»Wir haben häufig Kunden, die sich auf dem Weg in die Arbeit einen Film abholen, der am Abend zuvor zurückgebracht wurde.«
»Sonst noch etwas …?«
»Danach war ich im Bad. Das Wasser lief. Sonst hätte ich vielleicht etwas gehört.« Wieder schoss die Hand nach oben und wischte eine Träne weg. »Sie hatten Schalldämpfer, oder?«
Eine merkwürdige Feststellung. Thorne fragte sich, ob der Junge vielleicht mehr wusste, als er sagte, kam dann aber doch zu dem Schluss, dass es wohl eher an den vielen bescheuerten britischen Gangsterfilmen lag, die sein Vater in den Regalen stehen hatte.
»Wie kommst du darauf, dass es nicht nur einer war, Yusuf?«
»Vor einer Woche waren zwei Jungs hier. Etwa in meinem Alter, hat mein Vater gesagt. Sie haben versucht, ihm Angst einzujagen.«
»Was haben sie gemacht?«
»Nur Quatsch, den niemand ernst nahm. Drohungen. Ein Hundehaufen in einer Videohülle, eine Mülltonne durchs Fenster geworfen.« Er deutete auf das Schaufenster, wo nun ein schwarzer Vorhang den Passanten verbarg, was in dem Laden vorging. »Am Anfang war ein Brief, den mein Vater nicht weiter beachtete.«
»Hat er den Brief aufgehoben?«
»Meine Mutter hat ihn bestimmt irgendwo abgeheftet. Sie wirft nie was weg.«
Da fiel dem Jungen auf, was er soeben gesagt hatte, und er blinzelte langsam. Diesmal blieb die Hand etwas länger an den Augen. Thorne fiel das Schild ein, das er an der Kasse gesehen hatte: Videoüberwachung. »Hat Ihr Vater eine Aufnahme davon? Von dem Zwischenfall mit den zwei Jungen?«
»Müsste er eigentlich. Er hat alles aufgenommen, aber inzwischen ist sie sicher weg.«
Thorne schaute ihn fragend an.
»Weil er immer dieselben paar Kassetten benutzt hat«, antwortete Yusuf. »Er hat sie jeden Tag fünf-, sechsmal durchgewechselt und wieder überspielt. Er hat immer versucht, Geld zu sparen, aber das mit den Videokassetten war wirklich blöd. Schließlich haben wir das Zeug verkauft. Immer Geld sparen …«
Der Junge ließ den Kopf sinken und den Tränen freien Lauf. Seine Hände, die zuvor damit beschäftigt gewesen waren, sie wegzuwischen, umklammerten nun den Verkaufstresen.
»Du bist kein Kind mehr, Yusuf«, sagte Thorne. »Du bist viel zu schlau, um dir ein X für ein U vormachen zu lassen, also werde ich das gar nicht erst versuchen.« Er sah hinüber zu den Wandschirmen und was sich dahinter befand. »Hier ging es um keinen Streit, keine Liebesaffäre und keine unbezahlte Rechnung. Ich
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