Tom Thorne 04 - Blutzeichen
war beinahe so schnell gerannt wie das Mädchen.
Der Rest – das Gesicht des Mädchens und der ganze Kram – war später nachgereicht worden. Auf jeder Titelseite und jedem Fernsehschirm hatte er es gesehen. Zunächst einbandagiert und später dann ohne den Verband. Man konnte sich unmöglich vorstellen, wie es zuvor ausgesehen hatte.
Schon witzig, dachte er. Ironie des Schicksals. Wenn er damals, auf dem Schulhof, das Gesicht der Kleinen gesehen hätte, hätte er gemerkt, dass sie nicht die Richtige war. Danach konnte sie natürlich niemand mehr verwechseln.
Schließlich döste er weg. Die Gedanken machten verschwommenen Bildern und Gefühlen Platz …
Er erinnerte sich an ihre Arme, mit denen sie um sich schlug, bevor sie zu laufen anfing. Als störe sie nur eine Wespe und nichts Schlimmeres. Er erinnerte sich an das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Schulhof, als sie sich umwandte. Er erinnerte sich daran, wie er sich als Vollidiot gefühlt hatte, als er erkannte, dass sie das falsche Mädchen war.
Thorne verbrachte den Großteil der Nacht damit, sich auf dem Nylonbetttuch zu wälzen, in die abartig weiche Matratze im Gästezimmer seines Vaters einzusinken und nach dem Oberbett zu hangeln, das dem natürlichen Gefalle des Bettes folgend nach unten gerutscht war. Es kam ihm vor, als sei er gerade eingeschlafen, als sein Telefon läutete. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es bereits halb zehn war. In dem Augenblick, als er in Panik ausbrach, fiel ihm ein, dass er gestern Abend Brigstocke angerufen und über den Unfall informiert hatte. Sie würden ihn nicht im Büro erwarten.
Er fasste nach unten, wo das Telefon auf seinen Klamotten zwitscherte. Der Nacken tat ihm weh, und die Arme waren ausgekühlt.
Es war Holland. »Ich bin in einem Videoladen in Wood Green«, sagte er. »Zwei Tote, beide noch warm. Und es handelt sich nicht um den Titel eines dieser Videos …«
Viertes Kapitel
Der Streifenbeamte, der als Erster am Tatort gewesen war, saß an einem kleinen Tisch in einem Hinterzimmer neben einem Halbwüchsigen, Muslum Izzigils Sohn, wie Thorne vermutete, der in der Tür lehnte. Es war schwer zu sagen, wer von den beiden jünger oder aufgewühlter wirkte.
Holland stand neben Thorne. »Der Junge ist auf die Straße hinausgerannt, als er sie gefunden hat. Constable Terry hat gerade in dem Café gegenüber gefrühstückt. Er hörte den Jungen brüllen.«
Thorne nickte und schloss rasch die Tür. Er ging zurück in den Laden, wo man hastig Stellwände um die beiden Leichen errichtet hatte. Die Leute von der Spurensicherung gingen mit der gewohnten Effizienz vor, aber irgendwie hatte Thorne den Eindruck, dass das übliche Geplänkel – der schwarze Humor, der craic, wie die Iren es nannten, wenn sie Spaß hatten – diesmal etwas gedämpft war. Thorne hatte Serienmörder gejagt, hatte Tatorte erlebt, an denen die Atmosphäre mit Respekt, sogar Angst aufgeladen war in Anbetracht der Darbietung, die sich ihnen bot. Aber hier war es etwas anderes. Es handelte sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Auftragsmord. Dennoch lag eine merkwürdige Stimmung über dem Raum. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass es zwei Tote waren. Mann und Frau.
»Wo war der Junge, als es passierte?«
»Oben«, sagte Holland. »Machte sich für die Schule fertig. Er hat nichts gehört.«
Der Mörder hatte also einen Schalldämpfer benutzt. »Der hier haut nicht ganz so auf den Putz wie der X-Man«, sagte Thorne.
Muslum Izzigil kauerte an die Wand gelehnt zwischen einem Ständer mit Kindervideos und einer Lara-Croft-Figur in Lebensgröße. Sein Kopf hing zur Seite, die halb geöffneten Augen traten hervor. Von seinem Hinterkopf rann in einem dünnen Rinnsal Blut über die frisch rasierte Wange und färbte den Kragen des weißen Nylonhemds rosa. Die Leiche seiner Frau lag mit dem Gesicht nach unten quer über seinen Beinen. Es war bemerkenswert wenig Blut zu sehen. Nur das kleine dunkle Loch hinter ihrem Ohr verriet, was sich hier zugetragen hatte. Oder zumindest verriet es einen Teil der Geschichte …
Wen hatte er zuerst getötet? Zwang er den Ehemann, bei der Hinrichtung seiner Frau zuzusehen? Musste die Frau nur sterben, weil sie versucht hatte, ihren Mann zu retten?
Thorne sah auf von den Toten. Er bemerkte die kleine Kamera in der Ecke. »Darauf können wir wohl nicht hoffen?«
»Allerdings«, sagte Holland. »Das Aufnahmegerät ist nicht schwer zu finden. Es befindet sich unter der Theke. Der Mörder hat
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