Tonio
mußt dich neben mich setzen.«
»Ich habe Angst, daß ich mich nicht mal traue, die Augen zuzumachen.«
»Hör zu, Minchen. Wir haben ihn damals, im AMC , ganz aus der Nähe sterben sehen. Dann schaffen wir das jetzt auch.«
44
Über den Zebrastreifen zwischen der Brücke am Max Euweplein und dem Eingang zum Vondelpark tanzten mit ulkigen, hölzernen Sprüngen zwei kleine Gestalten – offenbar um einem aus westlicher Richtung heranrückenden Fahrzeug auszuweichen. Ich verstehe nichts von Autos, aber aus dem Recherchematerial für meinen Roman erkannte ich dieses als einen Suzuki Swift. Vielleicht hatte der Wagen wegen der die Straße überquerenden Fußgänger das Tempo etwas verringert und erhöhte die Geschwindigkeit nach dem Passieren des Zebrastreifens wieder: Aus den hüpfenden Bildern ließ sich das nicht eindeutig ableiten. Der Suzuki ruckte durch die weite Kurve der Stadhouderskade auf den nächsten Zebrastreifen zu. Gleichzeitig näherte sich aus der Hobbemastraat, also mehr oder weniger aus südlicher Richtung, ein Radfahrer demselben Punkt. Wie es aussah, waren die Ampeln an der Kreuzung nicht eingeschaltet.
Die Kollision zwischen Auto und Fahrrad ereignete sich genau zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bildern – als hätte jemand den Zusammenstoß zwecks Zensur oder aus einem anderen Grund herausgeschnitten. Also fehlte die Ursache, nicht aber die Wirkung. Die Aufnahmen zeigten einenstehenden Suzuki Swift, davor, liegend, ein Fahrrad und dahinter eine mehr oder weniger ausgestreckte, leicht zusammengekrümmte Gestalt. Dem Auto entstieg der Fahrer, ungelenk wie eine Gliederpuppe.
Weil Mirjam hinter dem Bürostuhl über mich gebeugt stand, ihr Busen in meinem Nacken, spürte ich, wie ihr Atem stockte. Ihre Finger, die sie locker auf meine Oberarme gelegt hatte, gruben sich jetzt in mein Fleisch. Der Fahrer bewegte sich mit einem Sprung – und dann wurde das Bild schwarz. Ich spulte die Aufnahme zurück auf null und spielte sie noch einmal ab.
»Nein, nicht noch mal«, sagte Mirjam weinend. Sie verbarg ihr Gesicht an meinem Hals, und ich spürte die warme Nässe ihrer Tränen.
»Doch, jetzt will ich alles wissen.«
Der quasi-diskret weggelassene moment suprême . Der fein säuberlich in Fahrrad und Fahrer aufgeteilte Kontrahent, verteilt auf vordere und hintere Stoßstange. Kopf und Schultern des ausgestiegenen Beifahrers. Merkwürdig: Der kurze Film lief jetzt, beim erneuten Abspielen, länger weiter. Der Sprung des Fahrers führte zum Opfer. Mit dem gleichen Sprung war er wieder an der Tür.
Ich hielt das Bild an. Der Fahrer hatte eine Hand am Ohr. Im Gerichtsmedizinischen Institut würden sie durch eine riesige Vergrößerung der Bilder vielleicht sichtbar machen können, welche Nummer der Mann gewählt hatte. Ich wußte es auch so: 1-1-2.
Wieder wurde der Bildschirm schwarz. Ich spulte zurück. Es schien, als erwartete ich, der eigentliche Zusammenstoß würde früher oder später doch zu sehen sein.
»Hier, Minchen, die rennenden Fußgänger … die könnten durchaus Tonios Aufmerksamkeit abgelenkt haben. Straße frei für sie? Dann auch für ihn, ein kleines Stück weiter. Also weiter.«
Mirjam schaute schon lange nicht mehr hin. Sie hingschwer auf mir. Einige Male spielte ich den Film von neuem ab. Gieriger, so schien es fast, je mehr ich mich an ihn gewöhnte. Als hätte ich eine Methode gefunden, die Unfallbilder durch Überfütterung aus meinem Gedächtnis zu löschen. Mit der Zeit wirkte die Wiederholung tatsächlich abstumpfend. Die Aufnahme begann, mit den verspringenden kleinen Gestalten und allem anderen, den ersten Videospielen zu gleichen, die Tonio mit seinen geschickten Fingern gespielt hatte. Nur ließ sich an diesem Spiel nichts zum Guten hin manipulieren. Sooft ich auch von vorn begann, das Auto siegte jedesmal über das Fahrrad.
»Adri, hör jetzt auf, bitte.«
»Schau, da ist noch mehr drauf.«
Nachdem ich den Film, schwarz, etwas länger hatte weiterlaufen lassen, waren auf einmal, mit ständig stockendem Flackern, vier Blinklichter zu sehen: zwei von Streifenwagen, zwei von Rettungswagen. Weil das Bild so hüpfte, sah es aus, als würde das Opfer mitsamt Trage in Richtung eines der Krankenwagen geschmissen.
Mirjam hatte ihren Kopf wieder von meiner Schulter gehoben und sah sich leise schluchzend die letzten Bilder an. »Unser lieber Tonio … warum muß das nur geschehen?« (Ich bin mir so gut wie sicher, daß sie das Präsens gebrauchte und »muß« sagte:
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