Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
wirst?«
Roache setzte hinter seinen riesigen Brillengläsern seinen dümmsten Blick auf.
»Äh, nein.«
Miss Navarre hob eine Augenbraue. Mit dieser Augenbraue konnte sie eine Menge sagen. Bei all ihrer Nettigkeit, reinlegen ließ sie sich nicht so leicht.
Cody Roache schluckte und versuchte es noch einmal. »Äh … Nein, Ma’am?«
Es läutete, und die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf. Miss Navarre hielt den Zeigefinger in die Höhe, und alle verharrten mitten in der Bewegung, als würde ein Film angehalten.
»Mr Roache«, sagte sie. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn sie jemanden Mr oder Miss nannte. »Wir sprechen uns morgen früh vor dem Unterricht.«
»Ja, Ma’am.«
Sie wandte sich Dennis Farman zu und hielt den Zettel hoch. »Dennis, dein Vater hat angerufen und lässt ausrichten, dass er es heute nicht schafft, dich abzuholen, du sollst zu Fuß nach Hause gehen.«
Sobald Miss Navarre die Hand sinken ließ, raste die gesamte fünfte Klasse wie eine Herde Wildpferde zur Tür.
»Warum wehrst du dich nicht gegen ihn, Tommy?«, fragte Wendy, als sie von der Grundschule von Oak Knoll in Richtung Oakwoods Park gingen.
Tommy schob sich seinen Rucksack über die Schulter. »Weil er mich dann verdrischt.«
»Ach, der reißt doch nur die Klappe auf.«
»Du hast ja keine Ahnung. Als er mich mal beim Völkerball angerempelt hat, habe ich danach bestimmt eine Woche nicht richtig Luft gekriegt.«
»Du musst dich zur Wehr setzen«, beharrte Wendy mit funkelnden blauen Augen. Sie hatte lange gewellte blonde Haare wie eine Meerjungfrau und frisierte sich immer wie irgendwelche Rockstars, von denen Tommy noch nie etwas gehört hatte. »Sonst bist du kein Mann.«
»Ich bin ja auch kein Mann. Ich bin ein Kind, und das werde ich auch noch eine Zeit lang bleiben.«
»Was, wenn er hinter mir her wäre?«, fragte sie. »Was, wenn er versuchen würde, mich zu schlagen oder zu entführen?«
Tommy runzelte die Stirn. »Das ist was anderes. Dann geht’s ja um dich. Klar würde ich versuchen, dich zu retten. So was wird von einem Jungen erwartet. Das nennt man Ritterlichkeit. Wie bei den Rittern der Tafelrunde oder in Krieg der Sterne .«
Wendy lächelte und wickelte einen ihrer blonden Zöpfe zu einer Schnecke über ihrem Ohr auf. »Bin ich dann Prinzessin Leia?«, fragte sie mit einem koketten Augenaufschlag.
Tommy verdrehte die Augen. Sie bogen vom Bürgersteig ab auf einen Weg, der durch den Park führte.
Oakwoods war eine ausgedehnte Parkanlage, für die man den Wald an einigen Stellen gerodet hatte, um dort überdachte Picknickplätze, einen Konzertpavillon und einen Spielplatz hinzubauen. Der Rest war verwildert und glich einem Urwald, durch den ein paar schmale Pfade führten.
Die meisten Kinder hätten niemals die Abkürzung durch den Park genommen, weil Geschichten kursierten, der Wald wäre verwunschen und es würden verrückte Penner darin wohnen, und irgendwann hatte sogar mal jemand behauptet, er hätte Bigfoot dort gesehen. Aber es war der kürzeste Weg nach Hause, und Wendy und er gingen ihn seit der dritten Klasse. Es war noch nie etwas Schlimmes passiert.
»Und du bist Luke Skywalker«, sagte Wendy.
Tommy wollte nicht Luke Skywalker sein. Han Solo hatte viel mehr Spaß, er sauste mit Chewbacca durchs Universum, scherte sich nicht um Regeln und tat, was er wollte.
Tommy hatte in seinem ganzen Leben noch keine Regel gebrochen. Alles verlief geordnet und geplant. Um sieben Uhr aufstehen, Viertel nach sieben Frühstück, um acht in die Schule. Schulschluss zehn nach drei. Viertel vor vier musste er zu Hause sein. Manchmal ging er zu Fuß. Manchmal wurden sie von Tommys oder Wendys Mutter oder Vater abgeholt, je nachdem. Wenn er nach Hause kam, gab es etwas zu essen, und er berichtete seiner Mutter, was in der Schule los gewesen war. Von vier bis Viertel nach sechs durfte er raus und spielen - es sei denn, er hatte Klavierunterricht -, aber Punkt halb sieben hatte er mit frisch gewaschenen Händen am Abendbrottisch zu sitzen.
Es wäre viel lustiger gewesen, Han Solo zu sein.
Wendy hatte inzwischen das Thema gewechselt und erzählte ihm irgendetwas über ihre neueste Lieblingssängerin Madonna, von der Tommy noch nie etwas gehört hatte, weil seine Mutter darauf bestand, dass sie nur öffentlichrechtliche Radiosender hörten. Sie wollte, dass er später mal Konzertpianist und/oder Hirnchirurg wurde. Tommy wollte Baseballspieler werden, wenn er groß war, aber das sagte er seiner Mutter
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