Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
Besprechungszimmern war während des Höhepunkts des Kalten Krieges ein Luftschutzkeller gewesen, der J. Edgar und seinen Freunden als Zufluchtsort dienen sollte für den Fall, dass ein Atomkrieg ausbrach. Das FBI hatte vor einem Jahr beschlossen, die Behavioral Sciences/Investigative Support Unit in die muffigen, fensterlosen Kellerräume zu verbannen.
Man hatte sie in dieser riesigen Gruft zusammen mit ihren Fällen weggesperrt - den schlimmsten Mord- und Vergewaltigungsfällen, die das Land zu bieten hatte -, und die Agents witzelten oft darüber (mit jener Art Galgenhumor, der ihnen ihre geistige Gesundheit erhielt oder zumindest das, was als solche galt), dass sie zehnmal tiefer begraben als die Toten lebten und arbeiteten.
Leone verließ den Aufzug.
»Vince!«
Er sah seinen Kollegen an und registrierte halb amüsiert und halb resigniert dessen Gesichtsausdruck. »Hallo, Ben. Nein, ich bin kein Gespenst.«
»Nein, natürlich nicht. Kein bisschen. Ich bin nur überrascht, dich zu sehen, das ist alles. Was tust du hier?«
»Wenn ich mich recht erinnere, dann arbeite ich hier«, sagte Vince und wandte sich ab.
Er ging in die Herrentoilette, betrat eine Kabine und übergab sich. Hitze stieg in Wellen in ihm auf. Die Medikamente oder vielleicht auch die Nerven, wie er sich eingestehen musste. Er war sechs Monate nicht mehr im Büro gewesen.
Drei Kabinen weiter übergab sich ein anderer Mann.
Sie verließen die Kabinen gleichzeitig und traten zu den Waschbecken.
»Vince!«
»Schlimmer Fall, Ken?«, fragte Leone. Er drehte den Hahn auf, ließ Wasser in seine Hand laufen und spülte seinen Mund aus.
Kens Gesicht war aschfahl und sein Blick gequält. »Drei kleine Kinder, sexuell missbraucht, die Gesichter mit einer Schrotflinte weggeblasen.
Wir wissen weder, wer sie sind, noch, woher sie stammen. Wir können ihre Zähne nicht mit den zahnärztlichen Unterlagen von vermisst gemeldeten Kindern abgleichen, weil sie keine mehr haben. Ständig kriegen wir zu hören, dass man bald einen DNA-Abgleich machen kann, aber dann wird es für diese Kinder zu spät sein.«
»Das wird noch Jahre dauern«, sagte Vince. Für die Polizeiarbeit wäre diese Technik das reinste Zauberinstrument, aber wie Ken sagte, half ihnen das jetzt noch nichts.
Ken schüttelte den Kopf, so als versuchte er, die Bilder, die sich ihm eingebrannt hatten, loszuwerden. Ken war ein fantastischer Fallanalytiker, aber er hatte es nie ganz geschafft, eine Trennlinie zwischen Analyse und Mitleid zu ziehen. Beste Chancen, ein Magengeschwür zu bekommen, mindestens.
»Wenn es Kinder trifft, ist es immer am schlimmsten«, sagte Vince.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch länger ertrage«, gab Ken zu. »Die Opfer sind ungefähr so alt wie meine Jungen. Wenn ich abends nach Hause gehe … Du weißt, wie es ist.«
»Ja.«
Vince ging abends zu einem großen Fernseher nach Hause. Er war seit sieben Jahren geschieden. Seine ältere Tochter besuchte inzwischen das College. Aber er erinnerte sich, dass er versucht hatte, seine Arbeit im Büro zurückzulassen, damit er nach Hause gehen und so tun konnte, als sei alles normal.
»Ich habe am Wochenende mit Howard Golf gespielt«, sagte Ken. »Was die bei der IRDU machen, klingt gar nicht so schlecht.«
»Forschung und Entwicklung. Na ja …« Bevor er in diese Abteilung wechselte, würde Vince lieber zu Hause bleiben und den ganzen Tag Däumchen drehen, aber jeder nach seinem Geschmack.
»Ach«, sagte Ken, als wäre es ihm jetzt erst aufgefallen. »Was tust du eigentlich hier?«
Vince zuckte die Achseln. »Heute ist doch Mittwoch.«
Alle Fallanalytiker gaben etwa fünfzehn Stunden die Woche Unterricht, und zwar sowohl in der FBI Academy als auch in der National Academy für die Mitarbeiter anderer Polizeibehörden. Aber an den Mittwochvormittagen unterrichteten sie nicht. An den Mittwochvormittagen versammelten sich alle, die keine auswärtigen Verpflichtungen hatten, im Besprechungsraum, gingen Fälle durch, hofften auf Ideen, Einfälle, Ratschläge von den anderen und stellten die eigenen Überlegungen zur Diskussion.
Die BSU war in den zehn Jahren ihres Bestehens immer größer geworden, und mittlerweile arbeiteten dort sechs Fallanalytiker, die Polizeibehörden im ganzen Land bei schwierigen Fällen unter die Arme griffen. Als John Douglas Einsatzkoordinator der BSU geworden war, hatten die Fallanalytiker ihr eigenes Akronym bekommen - ISU, Investigative Support Unit. Douglas hatte sie
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