Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
»Danke, Vince. Das wäre gut.«
Vince stand auf, verließ den Raum und ging schnurstracks zurück in die Herrentoilette, wo er den Kaffee erbrach. Er spülte sich den Mund aus und stand dann einen Moment lang da, betrachtete sich im Spiegel und versuchte, das zu sehen, was seine Kollegen sahen.
Er war immer ein kräftiger, gut aussehender Mann gewesen: ein Meter achtundachtzig, neunzig Kilo, die Statur eines Footballspielers. Jetzt war er ein großer, knochiger Mann mit zehn Kilo Untergewicht. Sein Gesicht sah nach wie vor aus wie gemeißelt, und auch seinen intensiven Blick aus den dunklen Augen und sein breites, strahlendes Lächeln hatte er nicht verloren, wenigstens das. Das war ihm geblieben. Und im Moment hatte er sogar etwas Farbe im Gesicht, aber sobald sein Blutdruck wieder auf sein normales Niveau gesunken war, würde sein Gesicht in etwa dasselbe Grau zeigen wie die vielen stahlgrauen Strähnen, die sein Haar durchzogen.
Die Haare waren glücklicherweise dick und wellig nachgewachsen. Die Glatze hatte ihm nicht gestanden.
Einen Moment hatte er wieder den Abend Ende März vor Augen, als er bepackt mit Einkaufstüten zurück zu seinem Auto gegangen war, mit den Gedanken bei einem Fall. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Und sogar diese Erinnerung hatte sich sein Hirn womöglich selbst zurechtgezimmert. Laut Zeugenaussagen war ein Kerl in einem Kapuzensweatshirt mit einem Revolver in der Hand auf ihn zugelaufen und hatte Geld verlangt. Er hatte nicht schnell genug reagiert. Der Angreifer hatte den Abzug gedrückt.
Erst drei Wochen später hatte er das Bewusstsein wiedererlangt, und die Ärzte erklärten ihm, dass es ihn gar nicht mehr geben dürfte. Die Kugel vom Kaliber.22 war in seinen Schädel eingedrungen, hatte ihn aber nicht wieder verlassen. Das Ausmaß der bleibenden Schäden würde sich erst im Laufe der Zeit erweisen.
Es war ihm wie eine Ironie des Schicksals vorgekommen. Während all der Jahre, die er in der Verbrechensbekämpfung arbeitete, war ihm nie etwas passiert. Nein, er, Mr FBI, musste sich auf einem Supermarktparkplatz überfallen und von einem blöden Junkie in den Kopf schießen lassen.
Er verließ die Toilette und ging zu seinem Schreibtisch. Bei den Marines hatte er es sich angewöhnt, seinen Schreibtisch immer sauber und ordentlich zu halten, und er wusste von jedem Blatt Papier, wo es war, ohne dass er danach suchen musste. Ordnung auf dem Schreibtisch verriet Ordnung im Kopf, wenn man einmal von diesen Metallsplittern absah.
Nachdem er eine Handvoll von den Antazid-Tabletten in seiner Schreibtischschublade geschluckt hatte, erledigte er sein Telefonat, erhielt die erwünschten Informationen und ging zurück in den Besprechungsraum, wo er Ken ein Blatt Papier mit einer Telefonnummer reichte.
Inzwischen diskutierten sie über einen Fall, bei dem es
um mehrere Sexualmorde in New Mexico an der mexikanischen Grenze ging. An den Ermittlungen waren auch die mexikanischen Behörden beteiligt, die darum ersuchten, zwei ihrer Detectives nach Quantico schicken zu dürfen, damit man ihnen dort einen Crashkurs in operativer Fallanalyse gab.
Der Vormittag zog sich hin. Vince wartete und ließ den Kollegen mit den aktuellen Fällen den Vortritt. Als das Meeting sich seinem Ende näherte, suchte Douglas noch einmal den Augenkontakt mit ihm.
»Du bist doch sicher nicht deshalb zurückgekommen, weil du den Anblick unserer hässlichen Visagen so sehr vermisst hast«, sagte er.
»Nein.« Vince grinste, dann lachte er kurz auf. »Eigentlich wollte ich Russo sehen. Wo ist sie denn?«
Rosanne Russo war die einzige Frau in der Abteilung und daran gewöhnt, sich deswegen ständig dumme Bemerkungen anzuhören.
»Sie ist bei einer Konferenz in Seattle.«
»Tja, Pech gehabt.«
»Worum geht’s, Vince?«
Er stand langsam auf, um zu vermeiden, dass ihm schwindlig wurde. »Um einen möglichen Serienmörder in Südkalifornien. Der Mann entführt Frauen, foltert sie und klebt ihnen die Augen und den Mund mit Sekundenkleber zu.«
»Prä oder post mortem?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Gibt es ein Opferprofil?«
»Eines der Opfer wurde mehrmals von der Polizei wegen Prostitution aufgegriffen. Das letzte Opfer ist noch nicht identifiziert.«
»Wie viele sind es?«
»Drei in zwei Jahren.«
Sein Freund runzelte die Stirn. »Das entspricht nicht ganz den Kriterien.«
»Sag das der Toten, die gestern in einem Park gefunden wurde. Sie wurde in der Erde eingegraben, nur ihr Kopf ragte
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