Tony Mendez 02 - Eine verräterische Spur
bildete einen harten Klumpen in ihrer Kehle und drückte ihr die Luft ab.
»Ich weiß«, sagte Worth. »Ich weiß. Es tut mir sehr leid für Sie. Gehen Sie eigentlich noch zur Therapie?«
»Zweimal die Woche.«
»So etwas braucht Zeit. Meine Mutter sagt immer, die Zeit heilt alle Wunden.«
»Ihre Mutter redet Unfug«, sagte Anne unverblümt.
Worth nickte. »Ja, das stimmt wohl. Bestenfalls können wir darauf hoffen, dass die Wunden gut vernarben und wir sie nicht immerzu spüren. Und wir leben weiter unser Leben. Das müssen wir. Andernfalls gewinnt der Täter.«
»Ich weiß. Das sagt Vince auch.«
»Sie haben einen Experten zu Hause«, sagte Worth milde, »das verschafft Ihnen einen Riesenvorteil.«
»Stimmt.« Anne brachte ein kleines Lächeln zustande. »Außerdem besuche ich eine Opfergruppe im Thomas Center. Das hilft auch.«
»Dabei zu sein, wenn Peter Crane zu lebenslanger Haft verurteilt wird, wird noch mehr helfen.«
»Ganz bestimmt.«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen dieses Antrags, Anne. Ich habe da nicht die geringste Befürchtung. Ich wollte nur, dass Sie es von mir erfahren, statt es in den Nachrichten zu sehen.«
»Das weiß ich zu schätzen, Kathryn.«
»Wie läuft es sonst?«
»Gut. Na ja … Ich mache mir Gedanken wegen Dennis Farman«, gab Anne zu. »Ich bin mir nicht sicher, ob er in dieser Klinik gut aufgehoben ist. Er ist dort völlig isoliert. Es gibt niemanden in seinem Alter, mit dem er interagieren kann.«
Worth hob abwehrend die Hände. »Entweder er bleibt dort, oder er wird in ein Jugendgefängnis überstellt. Das sind die Alternativen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass er einen anderen Jungen niedergestochen hat. Unter gesunder Interaktion verstehe ich etwas anderes.«
Anne stieß einen Seufzer aus. »Ich weiß. Und ich weiß, dass es im Jugendgefängnis auch keine Jungen in seinem Alter gibt. Es findet sich einfach keine akzeptable Lösung für ihn. Wenn die Jugendfürsorge ihn irgendwo unterbringen könnte … in einer Resozialisierungseinrichtung oder etwas in der Art.«
»Er ist ein Gewaltverbrecher, Anne«, sagte Worth. »Wenn er achtzehn wäre, würden Sie sich nicht so viel Mühe machen, um außerhalb einer Haftanstalt etwas für ihn zu finden.«
»Genau da liegt ja das Problem. Er ist nicht achtzehn. Er ist ein kleiner Junge.«
Worth nickte und wägte ihre nächsten Worte ab.
»Ich erzähle Ihnen jetzt mal von einem ›kleinen Jungen‹, mit dem ich es als Anklagevertreterin in Riverside zu tun hatte«, sagte sie dann. »Sein Name war Brent Batson. Als ich Anklage gegen Batson erhob, war er achtundzwanzig. Ein Vergewaltiger, Wiederholungstäter. Grausam und brutal. Ich habe ihn dreimal lebenslänglich hinter Gitter geschickt. Ich wusste von neunzehn Frauen, die er vergewaltigt hatte. Einem Journalisten hat er später erzählt, dass es mindestens doppelt so viele gewesen seien.
Zum Zeitpunkt seiner ersten Tat – Vergewaltigung – war er zwölf Jahre alt. Er hat seine gesamte Jugend in verschiedenen Einrichtungen verbracht, die sich alle bemüht haben, ihn wieder zurück auf den rechten Weg zu führen. Zur Feier seines achtzehnten Geburtstags vergewaltigte er nach seiner Entlassung mit vorgehaltenem Messer eine Vierzehnjährige. Als er nach Verbüßung der Strafe für diese Tat entlassen wurde, vergewaltigte er eine obdachlose Frau und deren zehnjährige Tochter.«
»Sie wollen also sagen, dass es nicht möglich ist, Dennis Farman zu resozialisieren«, sagte Anne.
»Ich will damit sagen, dass der Sozialarbeiter, der seinetwegen schlaflose Nächte hatte, als er zwölf war, niemals dafür entschädigt werden wird«, erwiderte Worth. »Mit der Gerechtigkeit ist es so eine Sache, Anne. Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Sie sich zu sehr engagieren.«
»Das weiß ich alles«, sagte Anne. »Glauben Sie mir, wenn es in Dennis’ Leben einen Menschen gäbe, der ihn an meiner Stelle in den Gerichtssaal begleitet, wäre ich weg.«
»Sie haben ihm einen Anwalt besorgt«, sagte Worth.
»Ich bin seine Verfahrenspflegerin. Und ich ertrage den Gedanken nicht, dass es niemanden gibt, der sich auch nur im Geringsten für diesen zwölfjährigen Jungen interessiert. Stellen Sie sich doch mal vor, Ihr ganzes Leben liegt noch vor Ihnen und da ist niemand, der auf Sie wartet.«
»Anne, Sie müssen den Unterschied zwischen Sympathie und Empathie lernen«, sagte Worth. »Das eine macht Sie zum Menschenfreund, das andere zu einem unglücklichen
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