Tony Mendez 02 - Eine verräterische Spur
schweigend da. Die Situation erinnerte sie an ein Schachspiel. Woher sollte sie wissen, ob sie den richtigen Zug machte? Sie hatte das Gefühl, der Sache nicht gewachsen zu sein.
»Findest du Mörder cool?«, fragte sie. »Warum?«
Etwas wie Begeisterung blitzte in seinen Augen auf. Annes Magen krampfte sich zusammen.
»Weil die jemanden einfach umbringen, wenn sie ihn nicht mögen«, antwortete er. »Dann müssen sie ihn nie wiedersehen.«
Was sollte sie darauf erwidern? Dass es falsch war, jemanden umzubringen? Wen würde er denn umbringen wollen? Sie versuchte, sich von ihm nicht in die Falle locken zu lassen, weil sie überzeugt war, dass er solche Dinge nur sagte, um sie zu schockieren. Was aber, wenn sie falschlag? Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Dennis hatte sich weggedreht und saß nun seitwärts auf dem Stuhl, beobachtete sie aus dem Augenwinkel.
»Ich würde Tommy Crane umbringen«, sagte er.
Anne reagierte nicht. Sie war nicht überrascht. Das hatte er schon öfter gesagt.
»Ich weiß, dass du Tommy nicht magst«, sagte sie. »Du glaubst, dass er das tollste Leben hat, aber das stimmt nicht, Dennis. Sein Vater wird ins Gefängnis gehen.«
»Stimmt. Er ist ein Mörder. Das ist echt cool.«
So wie dein Vater , lag Anne auf der Zunge. Was würde er dann machen? Wie würde er reagieren? Würde die harte Schale zerbrechen? Würde er zu weinen anfangen?
Dennis war schon immer auf Tommy Crane eifersüchtig gewesen und hatte ihn schikaniert. Nach außen hin schien Tommy in einer Bilderbuchfamilie zu leben. Sein Vater war ein angesehener Zahnarzt mit einer Praxis in der Fußgängerzone von Oak Knoll. Seine Mutter war Immobilienmaklerin. Sie wohnten in einem schönen Haus in einem schönen Viertel. Nur war Tommys Leben nicht schön gewesen.
Tommys Vater saß mittlerweile in Untersuchungshaft und wartete auf seinen Prozess. Er wurde verdächtigt, der Sekundenklebermörder zu sein, wobei man ihn bislang wegen keinem der Morde angeklagt hatte. Zunächst würde er sich wegen Körperverletzung und versuchten Mordes verantworten müssen … an Anne Navarre Leone.
»Tommy wohnt nicht mehr in Oak Knoll« war alles, was sie sagte. Sie erhob sich von dem Plastikstuhl und nahm ihre Handtasche. »Ich muss kurz raus«, sagte sie. »Wenn ich zurückkomme, möchte ich dich über deinen Rechenaufgaben sehen. Du wirst hier so lange sitzen, bis du sie gemacht hast.«
Der Junge sah zu ihr hoch und wirkte ein wenig erschrocken, weil sie plötzlich so streng war.
»Ich versuche dir zu helfen, Dennis«, sagte sie. »Aber du musst auch deinen Teil dazu beitragen.«
5
Anne verließ den Raum und ging den Flur hinunter, vorbei an einem Mann im Schlafanzug, der sich mit dem Feuermelder unterhielt. Sie machte am Stationszimmer nicht Halt für einen kleinen Plausch, obwohl sie die Schwestern und Pfleger mittlerweile gut kannte. Sie wollte allein sein. In ihrer Brust baute sich ein ihr mittlerweile nur allzu bekannter Druck auf. Sie konnte kaum atmen. Sie spürte wieder, wie sich die Hand um ihren Hals schloss.
Sie drückte auf den Türöffner und trat ins Freie.
Die Sonne brannte schon jetzt vom Himmel. Es würde wieder ein wunderschöner Tag werden. Anne war in Oak Knoll aufgewachsen. Sie war zum Studium nach Los Angeles gegangen, obwohl ihr Vater Professor an dem renommierten College in Oak Knoll war – vielleicht aber auch genau deswegen. Sie hatte nicht vorgehabt zurückzukehren, aber da hatte ihr das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie setzte sich auf eine der Betonbänke, die vor dem Gebäude standen, und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, als die Gefühle sie übermannten. Posttraumatische Belastungsstörung: Das kannten nicht nur Kriegsveteranen. Auch Opfer von Gewaltverbrechen litten darunter.
Erinnerungsbilder blitzten in ihr auf: Hände um ihren Hals, die sie würgten; Fäuste, die auf sie einschlugen; Füße, die sie traten, ihr die Rippen brachen, ihre Lunge zum Kollabieren brachten.
Noch ein Jahr nach der Entführung und dem Mordversuch war das erste und stärkste Gefühl, das sie überkam, wenn sie daran dachte, Angst. Ungefilterte Angst. Gefolgt von Wut – rasender Wut. Schließlich ein überwältigendes Verlustgefühl.
Ihre Therapeutin hatte gesagt, sie solle die Gefühle wie eine Woge kommen und über sich hinwegrollen lassen und sich nicht dagegen wehren. Je schneller sie die Gefühle akzeptierte, desto schneller würde sie sie loslassen
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