Tore der Zeit: Roman (German Edition)
um sich hindurchzuzwängen. Es ist zum Verrücktwerden, dachte sie.
»Es handelt sich um eine Verschlüsselung«, erklärte Yvonne. »Um einen Code. CdC steht für Cité de Carcassonne . Damit ist die Burgstadt auf dem Felsen gemeint, im Gegensatz zum Dorf am anderen Flussufer. Ch heißt Château , also Schloss, T4 steht für Turm 4, 56 sur table bedeutet dort im Raum 56 auf dem Tisch. Das Kürzel bezeichnet die Fundstelle des Kästchens. In der Inventarliste findet sich unter derselben Nummer eine Beschreibung des Gegenstands.«
Eifrig fing Yvonne an, die riesigen Pergamentseiten zu wenden und mit dem Finger an den Nummern entlangzufahren. Ravenna betrachtete sie. So hatte sie Yvonne oft dasitzen sehen, als diese noch in der Handschriftenabteilung der Straßburger Bibliothek beschäftigt war.
Sie stützte den Rücken gegen die warmen Steine. Wenn sie aufrecht saß, fiel es ihr leichter, wach zu bleiben. Mit schweren Lidern beobachtete sie, wie ihre Schwester nach der Nummer suchte und schließlich fündig wurde.
» Kleine hölzerne Schatztruhe ungeklärter Herkunft steht hier«, las Yvonne. »In Turm 6 wurde das passende Gegenstück gefunden. Ah – hier ist es: Den Schlüssel erzeugt man, indem man gemahlenes Eisenerz und Alraune in einer Schüssel mischt, es mit einer Alkaghest genannten Essenz versetzt und das Haar einer Schwangeren hineingibt. Anschließend auf kleiner Flamme köcheln. « Sie blickte auf und schmunzelte. »Wie ich schon sagte: Ohne meine Hilfe kriegst du das Kästchen nicht auf.«
»Das ist doch Unsinn«, erwiderte Ravenna. »So ein alchemistisches Rezept funktioniert doch nicht. Mal abgesehen davon, dass wir, außer deinen Haaren, keine weiteren Zutaten haben.«
Beleidigt stand Yvonne auf. »Wer sagt denn, dass wir nichts dahaben?«, fragte sie. Sie trat zu einer der beiden großen Truhen, die an der Wand standen, und kramte lange drin herum.
»Velasco stellt mir alles zur Verfügung, was ich haben will«, erklärte sie, als sie mit einem Arm voller Säckchen und Dosen zur Feuerstelle zurückkam. »Für das Alkaghest hat er extra einen arabischen Gelehrten bemüht.« In der linken Hand schüttelte sie ein Glasgefäß, in dem eine trüb schimmernde Flüssigkeit herumschwappte. Die Essenz sah aus, als hätte man Muschelschalen in Essig aufgelöst.
»Woran es wohl liegt, dass er dich so verwöhnt?«, fragte Ravenna, während sie zuschaute, wie Yvonne den Haken über dem Feuer herabließ. Dazu löste sie eine Kette, die seitlich neben dem Kamin über eine Winde lief. »Glaubt er etwa, dass du ihm eines Tages einen Topf voller Gold zusammenkochst? Außer aus Eigennutz hat der Hexer von Carcassonne anderen noch nie einen Gefallen getan.«
Yvonne presste die Lippen zusammen und hängte einen kleinen Kessel an den Haken. Sorgfältig maß sie die entsprechenden Mengen ab und gab sie in das Gefäß. Dann beugte sie sich nach vorn und ließ sich von Ravenna ein besonders langes und kräftiges Haar ausreißen, das sie zu den anderen Zutaten in den Topf warf. Zuletzt goss sie das Gemisch mit dem Alkaghest auf.
»Jetzt heißt es warten«, sagte sie.
Während der nächsten halben Stunde geschah nichts, außer dass Yvonne ab und zu ein Stück Holz nachlegte und die Mischung im Topf langsam zu brodeln begann. Draußen vor dem Fenster schneite es immer stärker. Als die Kette quietschte, fuhr Ravenna auf. Sie war eingenickt. Das Feuer war heruntergebrannt, und vom Loch in der Fensterscheibe strömte kalte Luft in den Raum. Nachdenklich überprüfte Yvonne das Rezept und rührte in dem Kessel.
»Seltsam«, murmelte sie. »Ich bin mir sicher, wir haben keinen Fehler gemacht. Dreieinhalb Unzen Erz auf eine Unze Alraunwurz. Und von der Schwangeren nur ein einziges Haar. Ich verstehe bloß nicht, warum die Verwandlung noch nicht eingesetzt hat.«
Sie löste den Stab von ihrem Gürtel – das verwunschene Ding namens Ardor magyca. Beklommen schaute Ravenna zu, wie Yvonne die Spitze in den Kessel tauchte und ein Wort der Hexensprache murmelte. Im Boden des Gefäßes tat sich ein Riss auf. Ein Tropfen zischte in der Glut.
»Verdammt«, fluchte Yvonne und zog an der Kette. »Das Alkaghest zerfrisst mir den Kessel!«
Plötzlich gab der Boden des Kessels nach. Der Inhalt ergoss sich in die Glut, die zischend und qualmend erlosch.
Schlagartig beherrschten blaue Schatten den Raum. Ravenna stand auf und holte den Kerzenständer vom Tisch. Sie zündete einen Docht an und leuchtete auf den Grund des Kessels. Er
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