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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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mitten im Winter, im Grenzgebirge, in dem es von Wölfen, Bären und Bösewichten nur so wimmelte – sie vermochte ihre Chancen recht gut einzuschätzen. Sie gingen gegen null, und wenn sie zehnmal eine Hexe war.
    Das Bett war so breit, dass sie beide bequem darin Platz hatten. Als Yvonne ihr Gewicht auf der anderen Seite der Matratze spürte, drehte sie sich schlaftrunken um. Sie lächelte, verzog dann rasch das Gesicht. »Dein kleiner Neffe ist ungezogen«, flüsterte sie. »Er lässt mich mal wieder nicht schlafen. Hier – fühl mal.«
    Unter den Decken fasste sie Ravennas Hand und legte sie auf ihren prallen Bauch. Ravenna hielt den Atem an, als sie die Bewegungen des ungeborenen Kindes spürte. Plötzlich hüpfte ihr Herz vor Aufregung. »Das ist ein Wunder«, flüsterte sie. »Einfach ein Wunder.«
    »Ja, das ist es«, erwiderte Yvonne. In der warmen Dunkelheit wirkte sie zum ersten Mal glücklich.
    Eine Zeitlang lagen sie schweigend unter dem Alkoven. Ravenna lauschte auf ihre Atemzüge, auf die gleichmäßigen Schritte des Wachpostens unter dem Fenster und den sanft fallenden Schnee. »Yvonne?«, flüsterte sie nach einer Weile.
    »Mhm«, machte ihre Schwester.
    »Ich finde, du solltest es Mathis sagen. Er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass er bald einen Sohn haben wird.«
    Yvonne schwieg. So lange, dass Ravenna schon dachte, sie sei eingeschlafen.
    »Mathis ist nicht der Vater«, wisperte ihre Schwester dann. »Aber du hast recht: Ich sollte es dem Betreffenden erzählen. Ich warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.«
     

 
    Der Ring des Königs
    In der Nacht war frischer Schnee gefallen. Die Türme und Zinnen der Festung leuchteten, und der Innenhof sah aus, als hätte man ein sauberes Tischtuch darin ausgebreitet. Das reine Weiß wurde erst verdorben, als Beliar über den Platz schritt und mit seiner Handkamera Eindrücke des verschneiten Schlosses einfing.
    Als er den jungen Ritter bemerkte, der am Ausgang des Nordturms lehnte, lächelte er und kam näher. Unwillig wich Lucian zurück. So wollte er sich auf keinen Fall filmen lassen: in Kettenhemd, Beinzeug und einem Mantel aus weißer Wolle. Ausgestellt wie ein Tanzbär, den ein Tierbändiger an der kurzen Kette führte.
    Seine Wächter packten ihn jedoch und drückten ihn gegen die Wand, wobei sie weder Rücksicht auf seine rechte Hand nahmen, die bewegungsunfähig auf dem Rücken verschnürt war, noch auf die gebrochenen Finger. Ein betäubender Schmerz schoss ihm in die Glieder, und er hielt still.
    »So ist es gut«, meinte Beliar. »Ich brauche bloß sein Gesicht in Großaufnahme.«
    »Fahr zur Hölle«, wünschte ihm Lucian. Es brachte ihm einen derben Stoß in die Rippen ein, der zum Glück durch die Rüstung gemildert wurde. Beliar bekam seine Aufnahmen, und man ließ ihn wieder los. Er schwankte auf den Füßen. Das Pochen in der verletzten Hand wurde erst schlimmer und verebbte anschließend langsam.
    »Sei nicht so undankbar«, sagte Beliar zu ihm. »Schließlich konnte ich deinen Vater überreden, dir zuzuhören. Glaub mir, das war nicht von Anfang an sein Plan. Diese Wette ist deine Chance am Leben zu bleiben. Zumindest noch eine Weile.«
    Nach diesen Worten schritt Beliar in Richtung Tor. Lucian blickte ihm hinterher. Wofür der Spielmacher die Aufnahmen wohl verwendete?, fragte er sich. Vermutlich stand der Teufel noch immer mit Ravennas Zeit in Verbindung. Es war denkbar, denn das Tor tief im Burgfelsen von Carcassonne hatte sich noch nicht geschlossen. Lucian spürte seine bedrohliche Gegenwart, durch meterdicke Mauern und Gesteinsschichten hindurch. Es war Wahnsinn. Welche Hexe würde ein Portal bezwingen, auf die Gefahr hin, dass es die gesamte Bevölkerung der Stadt in den Abgrund riss? Yvonne? Oder die schwarze Zauberin Elinor, die Beliar früher schon zu Diensten gewesen war?
    Ein Fanfarenstoß ertönte, und das Tor der Barbakane flog auf. Unter den Füßen der zahlreichen Festbesucher, den Hufen und Pfoten der Tiere verwandelte sich das makellose Weiß des Schnees binnen weniger Minuten in grauen, unansehnlichen Matsch.
    Verwirrt beobachtete Lucian den Einzug der Stadtbewohner. Sie veranstalteten einen Höllenlärm, denn sie kamen mit Schellen, Flöten und Trommeln durch das Torhaus. Im Innenhof begannen sie sofort zu tanzen und halsbrecherische Kunststücke aufzuführen, während die Hunde kläffend umherrannten.
    Dieser Festzug in aller Frühe beunruhigte ihn. Velasco hasste morgendliche Störungen. Nichts durfte sich

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