Tore der Zeit: Roman (German Edition)
war leer. Auch auf den rußgeschwärzten Steinen des Kamins war nichts zu sehen. Weder eine Inschrift noch sonst ein Hinweis, wie man die magische Truhe öffnen konnte. Erst als sie mit einem dünnen Ast in der Asche herumstocherte, legte sie einen kleinen, harten Gegenstand frei.
»Hier ist etwas!« Ravenna fädelte den Gegenstand auf den Ast und hielt ihn hoch. Ein Schlüssel.
»Das ist aus deiner Mischung geworden?«, staunte sie. Sie ließ den Schlüssel auf einen der Herdsteine gleiten. Sie und Yvonne beugten sich darüber. Der Schlüssel dampfte und hatte scharfe Grate, als wäre er eben aus der Gussform gekommen.
»Oh«, sagte Yvonne plötzlich. »Schau nur.« Sie zeigte auf ihr Haar. Es fand sich im Bart des Schlüssels wieder, als kunstvolles, goldenes Ornament. Sie lächelte zufrieden. »Neben Blut, Knochen und Namen besitzen Haare das stärkste magische Potenzial«, erklärte sie. »Wenn du jemanden an dich binden willst, schneide ihm eine Strähne ab, und er wird dir folgen.«
»Was du nicht sagst«, murmelte Ravenna.
Sie versuchte, den Schlüssel in die Hand zu nehmen, aber er war so heiß, dass sie ihn nur mit der Ecke einer Serviette anfassen konnte. Sie steckte ihn in das Schloss der kleinen Truhe. Er passte.
Ravenna schüttelte den Kopf. Eines musste man Yvonne lassen: Aus ihrer Schwester war wirklich eine richtige Hexe geworden. In diesem Moment fühlte sie sogar einen gewissen Stolz auf Yvonne. Sie hatte es nicht leicht gehabt, hatte sich ihr magisches Wissen ganz alleine aneignen müssen, ohne Hilfe eines mächtigen Hexenzirkels.
Als Ravenna den Schlüssel drehte, klickte das Schloss leise. Danach ließ sich der Riegel ganz einfach zurückschieben.
Die Schwestern schauten in das Kästchen. »Ach«, stieß Yvonne hervor. »Nun sieh sich einer das an.« Sie holte eine Pergamentrolle aus der Schatulle. Ravenna streifte das Band ab, das die Rolle zusammenhielt, und breitete das Pergament auf den Herdsteinen aus.
Es war eine Landkarte. Die Skizze zeigte ein Gebirge, das sich von einer Küste zur anderen erstreckte. Zweifellos waren das die Pyrenäen, jener Höhenzug, der hinter Carcassonne begann. In der rechten oberen Ecke stand in Schnörkelschrift: Wo befindet sich der magische Gral?
Ravenna starrte die Karte an. »Das ist die nächste Aufgabe? Die Frage der dritten Runde?« Vor lauter Verzweiflung lachte sie auf. »Finde den magischen Gral? Beliar spinnt doch total, wenn er glaubt, dass sich diese Aufgabe lösen lässt. Heerscharen von Gralssuchern sind daran gescheitert! Warum lässt er mich nicht gleich nach dem Elixier der Unsterblichkeit suchen? Oder nach dem Stein der Weisen?«
Yvonne zuckte mit den Achseln. »Vielleicht kommt das noch. Vergiss nicht: Das WizzQuizz hat insgesamt vier Runden. Du wirst also noch einige Schwierigkeiten meistern müssen, bevor du die Million gewinnst.«
»Ich will aber gar keine Million gewinnen«, sagte Ravenna leise. »Ich möchte nur, dass du mit uns nach Hause kommst.«
Yvonne blickte sie an. Dann stand sie auf. »Mein neues Zuhause ist hier«, verkündete sie. Sie stellte den Kerzenständer zurück auf den Tisch und blies die Flammen aus. »Zeit fürs Bett«, erklärte sie. »Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht. Wenn du nicht geschlafen hast, bereust du es morgen. Also was ist: Kommst du?«
Sie streifte das prunkvolle Kleid ab und warf es achtlos über einen Stuhl. Im Unterkleid aus Leinen und mit nackten Füßen schlüpfte sie unter die Decken.
Obwohl Ravenna schrecklich müde war, verspürte sie keine Lust schlafen zu gehen. Stattdessen grübelte sie darüber nach, wie ihr und Lucian die Flucht aus der Burgstadt gelingen konnte. Unruhig streifte sie durch die Kammer. Unten im Hof hörte sie, wie die Wachablösung vonstattenging. Auch der neue Posten begann auf und ab zu gehen. Seine Schritte knirschten auf dem Schnee. Mittlerweile war es so kalt im Zimmer, dass sie ihre Hände und Füße kaum noch spürte.
Aus Yvonnes Sachen wählte sie schließlich einen Metallbehälter aus und packte die Reste des Abendessens ein. Zusammen mit der Weinkaraffe steckte sie beides in eine Umhängetasche. Sonst gab es nichts Brauchbares in der Kammer – vor allem keine Waffen. Beliar hatte vorgesorgt.
Fröstelnd schlüpfte Ravenna aus ihren Schuhen und kroch zu Yvonne unter die Decken. Sie hoffte inständig, dass es Lucian irgendwie gelingen würde, sie am nächsten Tag zu begleiten. Alles andere war Selbstmord: eine Frau, allein,
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