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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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dass die Zauberinnen mitten im Winter so eine weite Reise unternehmen. Wahrscheinlich passt es ihnen nicht, dass ich unseren alten Familienbesitz zurückerobert habe.«
    Velascos Hand – in einem schwarzen Handschuh steckend und mit prunkvollen Ringen beladen – glitt mit einer weit ausholenden Geste über den Saal. In der Halle roch es nach Leder, Angst und kalter Asche. Der Geruch der Kindheit bewirkte, dass die gespenstische Szene auf Lucian noch bedrohlicher und bedrückender wirkte. Als sei er niemals durch ein Zeittor getreten. Als habe er nie die Wirklichkeit jenseits der magischen Schranke kennengelernt – Ravennas Welt, in der das Leben heller und und die Menschen freundlicher waren.
    »Da hast du deine Antwort doch schon«, erwiderte er endlich. »Der König wird dich ein weiteres Mal aus Carcassonne vertreiben. Diesmal wird Constantin dafür sorgen, dass du nie mehr zurückkehrst.«
    Velasco stützte den Kopf auf die Hand und betrachtete ihn nachdenklich. Er forderte ihn weder auf sich zu setzen, noch es sich sonst irgendwie bequem zu machen. Schließlich ging Lucian an seinem Vater vorbei zu einem Schemel, der in einer Ecke stand. Als er am Thron vorbeikam, ergriff Velasco seine Hand und hielt sie einen Augenblick. Die Berührung bestürzte Lucian. Etwas Derartiges war zwischen ihnen noch nie vorgefallen: ein Ausdruck familiärer Bindung.
    »Mein Sohn«, sagte Velasco leise. Dann drückte er Lucians Hand auf den Knauf auf der Armlehne und rammte ihm einen Dolch durch den Handrücken.
    Vor Schreck und Schmerz schrie er auf. Der Dolch nagelte ihn an Velascos Thron, und er konnte den Arm nicht zurückziehen.
    »An Constantins Hof hast du dir bemerkenswert unverschämte Umgangsformen zugelegt. Früher hast du viel schneller klein beigegeben«, stellte sein Vater mit eisiger Stimme fest.
    Lucians Zähne knirschten aufeinander. Als er sich mit der linken Hand befreien wollte, zückte Velasco das Schwert und schlug seinen Arm zur Seite.
    »Nun, wir haben die ganze Nacht Zeit, um an unserer Beziehung zu arbeiten«, fuhr der Hexer fort. »Zwar hat mir mein Freund und Lehnsherr, der Großmeister Beliar, gewisse Beschränkungen auferlegt, was unseren Umgang angeht. So darf ich dir zum Beispiel nicht den Kopf abschlagen, obwohl ich dich zu gerne spüren lassen würde, wie sich eine Hinrichtung anfühlt. Aber er hatte nichts dagegen, dass wir uns unterhalten.«
    Er setzte Lucian die Schwertspitze auf die Brust und zwang ihn langsam in die Knie. Der Schmerz in der angenagelten Hand war mörderisch.
    »Also«, sagte Velasco. »Was hat Constantin auf meinem Land zu suchen?«
    Eine Nacht war auch nur eine Nacht, selbst wenn sie sich quälend in die Länge zog. Irgendwann war vor den Fenstern der graue Morgen heraufgedämmert. Zu diesem Zeitpunkt war Lucian schon nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst um Ravenna zwang ihn jedoch, die Augen offen zu halten und zu reden. Antworten zu geben, die Velascos Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Auf diese Weise hoffte er seinen Vater davon abzuhalten, seiner Hexe etwas anzutun.
    Doch schließlich brachte er im Kopf alles durcheinander: das eigene Elend, die Frage, was Ravenna wohl gerade durchmachte und die Erinnerungen an eine unschuldige, junge Hexe namens Maeve. Seine erste große Liebe. Sie war durch einen Schwerthieb seines Vaters gestorben.
    Benebelt, wie Lucian war, hatte er kaum mitbekommen, wie sein Vater beim ersten Tageslicht den Saal verließ. Der Hauptmann der Palastwache befreite seine Hand schließlich. Der Arm war längst taub und gefühllos. Der Soldat befolgte offensichtlich Anweisungen: Mit einem Becher kochend heißen, gewürzten Weins und einem notdürftigen Verband brachte er Lucian wieder auf die Beine. Schließlich hatte Beliar noch Verwendung für ihn.
    Lucian schaute wieder zum Schloss. Im ersten Stock bewegte sich ein Vorhang. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis der Burgherr auf den Platz trat und das Spektakel einen neuen Höhepunkt erreichte. Bei diesem Gedanken schoss sein Puls in die Höhe. Er baute darauf, dass er dann auch Ravenna wiedersah. Was er dann tun sollte, wusste er allerdings nicht.
    Auf dem Platz hob ein Trommelwirbel an. Langsam stieg Beliar die breite Freitreppe hinauf und richtete die Kamera auf die Terrassentür. Niemand schien sich an seiner merkwürdigen Beschäftigung zu stören. Die meisten Menschen waren mit wirkmächtigen Kristallen und hellsichtigen Hexen vertraut und schienen den Teufel im

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