Torte mit Staebchen
Klassenkameraden im U-förmigen Schulhof stand, um aus den Händen der Rektorin das Abgangszeugnis entgegenzunehmen, empfand sie eine Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit. Ein letztes Mal wurde die Flagge mit dem Davidsstern gehisst und die Hatikva gesungen. Sie war nie gern in diese Schule gegangen und dort immer eine Außenseiterin geblieben. Aber mittlerweile war ihr klar, dass sie hier etwas sehr Kostbares erhalten hatte, eine solide Ausbildung, vor allem aufihrem Hauptinteressengebiet, den Sprachen. Und das war in diesen Zeiten und an diesem Ort und für Leute wie Finkelstein keineswegs selbstverständlich. Als die Reihe an Inge war, ihr Zeugnis entgegenzunehmen, sagte Mrs. Hartwich, die jedem Abgänger ein paar Worte mit auf den Weg gab: »Ich weiß, Inge, dass du dich nicht immer wohlgefühlt hast bei uns. Ich hoffe, es lag nicht ausschließlich an uns. Aber das hat dich nicht daran gehindert, hart zu arbeiten. Dafür bekommst du jetzt den Lohn. Ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber mit diesem Durchschnitt wird man dich an jeder Universität willkommen heißen, vielleicht sogar mit einem Stipendium.«
»Streberin«, hörte Inge eine ihrer Mitschülerinnen zischen, doch Inge achtete nicht mehr darauf, das lag jetzt alles hinter ihr.
Kaum war die Feier zu Ende, schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr durch die Stadt, einfach so, ohne Ziel, ohne Angst, ohne Auftrag. In den Straßen herrschte wieder Leben, der Fluss war voller Schiffe, und es war einfach herrlich, jung und frei zu sein.
Auf dem Rückweg machte sie noch kurz im Tempel unter dem Meer halt. Es konnte nicht schaden, dem großen goldenen Buddha und seiner wohltätigen Helferin, der marmornen Guanyin, einen Dankesbesuch abzustatten. Inge hatte das Gefühl, dass die beiden sich nicht nur um das Findelkind gekümmert, sondern auch ein wachsames Auge auf dessen Überbringerin, die Nachbarin aus dem Viertel, gehabt hatten.
Nachdem sie niedergekniet und ihre Räucherstäbchen geschwenkt hatte, trat Inge in den Hof hinaus.Natürlich hatte sie den Nonnen, mit denen sie sich beim Fegen angefreundet hatte, stolz erzählt, dass sie jetzt ihr Abschlusszeugnis in der Tasche hatte. Nun trat eine von ihnen auf sie zu und sagte: »
Unsere Äbtissin möchte dich gern sehen. Würdest du bitte mitkommen?«
Völlig überrascht folgte Inge der Nonne in den Wohn- und Verwaltungstrakt im hinteren Teil der Anlage, in dem sie zuvor nie gewesen war. Sie wurde in ein karg ausgestattetes Arbeitszimmer geführt. Hinter einem Schreibtisch aus dunklem Holz saß eine zierliche Frau im safrangelben Habit, den Kopf ebenso geschoren wie ihre Mitschwestern. Sie musterte Inge aus wachen, gütigen Augen.
»Mein Name ist Yuan Jing. Wir kennen uns noch nicht, Ying’ge, aber ich weiß, dass du in den letzten Jahren oft bei uns warst und viel zur Sauberkeit unseres Tempels beigetragen hast
.« Hier lächelte Harmonische Ruhe ihre Besucherin verschmitzt an, und Inge fragte sich, was die kleine, aber Ehrfurcht gebietende Frau sonst noch alles über sie wusste.
»Dein Chinesisch ist sehr gut, und du interessierst dich für unsere Kultur. Jetzt hast du die Schule beendet. Wir wissen nicht, wie deine Pläne für die Zukunft aussehen und was deine Eltern mit dir vorhaben, wollten dir aber vorschlagen, ob du nicht bei uns bleiben möchtest. Du könntest zunächst die buddhistischen Schriften studieren, bevor du dich endgültig für ein Leben im Kloster entscheiden müsstest
.«
Inge sah sie völlig entgeistert an. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Das Entlein als buddhistische Nonne? Inge wusste inzwischen, dass das Leben viele Farben annehmen konnte, aber Safrangelbwar sicherlich nicht die ihre. Die eben gewonnene Freiheit würde sie nicht gleich wieder aufgeben, und sosehr sie die chinesische Kultur schätzte, so war sie sich unter dem unergründlichen Blick des goldenen Buddha doch immer ein wenig als Eindringling vorgekommen. Außerdem gab es da noch Sanmao.
Höflich, aber bestimmt formulierte Inge ihre Antwort, auch wenn sie nicht wusste, wie man die Oberin eines buddhistischen Klosters korrekt anredete: »
Ich danke für Ihr Angebot und Ihr wertes Vertrauen, Nonne Oberin. Meine Eltern werden Schanghai bald verlassen, und ich werde an der St. John’s University Chinesisch studieren. Ich komme gern auch weiterhin zum Fegen.
« Sie hatte inzwischen gelernt, dass man in China ein Angebot, noch dazu ein so schwerwiegendes, nicht mit einem einfachen Nein
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