Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Geräusch, doch noch immer hielt er den Mann fest gepackt.
»Er hat eine Bombe. Der Zünder ist an seinem Handgelenk.«
Sarah kniete sich neben Sam und legte die Arme um ihn. »Sch…«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ist schon gut. Du kannst ihn jetzt loslassen.«
Er ließ den schlaffen Körper fallen, der reglos liegen blieb. Dann sank er in ihre Arme. Sie hielt ihn fest umfangen.
»Ich habe es versucht«, schluchzte er. »Ich habe alles versucht … «
Er schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.
58
24. Dezember 2007
Sechs Monate später
24. Dezember
Ich höre immer noch Alans Schreie, manchmal sogar während ich noch wach liege. Dann gehe ich nach oben in Joshs Zimmer und sehe ihn mir an. Er hatte schon seit Monaten keine Albträume mehr, schläft so tief und fest, dass er nicht einmal von seinem eigenen Schnarchen aufwacht.
Genau wie sein Vater.
Wenn ich träume, sehe ich oft Damian Wrights Gesicht vor mir, dieses unheimliche Lächeln, das er mir zugeworfen hat, kurz bevor er starb. Als ob er mich bemitleiden würde oder gewusst hätte, was mich erwartet. Dann öffnet er den Mund, aber es ist Alans Schrei, den ich höre. Was mich am meisten ängstigt, ist, dass ich mich überhaupt nicht schuldig fühle, obwohl ich Alan und diesen anderen Mann getötet habe. Ich habe in jener Nacht zwei Leben genommen, müsste ich da nicht mehr als bloß Erleichterung verspüren? Etwas anderes als die Freude, die mir der Anblick von Josh und Sam, heil und lebendig, schenkt?
Ich rede mir ein, ich sei nicht wie Damian oder Alan. Der Colonel und ich unternehmen lange Wanderungen, seit die Jagdsaison begonnen hat. Wir haben noch nichts geschossen, nicht einmal auf unsere Beute angelegt, begnügen uns stattdessen damit, sie zu verfolgen und zu beobachten. Manchmal unterhalten wir uns auch – zum ersten Mal hat er mir ganz ehrlich von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Vielleicht bin ich irgendwann so weit, ihm von meiner persönlichen Hölle zu berichten.
Sam sagt, ich würde Josh verwöhnen, aber –
Als das Telefon ein weiteres Mal klingelte, ließ Sarah den Stift und ihr Tagebuch fallen. Sie schaute zur Schlafzimmertür. Sam und Josh waren in der Küche und dekorierten Plätzchen. Es klingelte ein drittes Mal. Entnervt rollte Sarah mit den Augen und nahm ab.
»Sarah? Hier ist Caitlyn. Tut mir leid, Sie am Heiligabend stören zu müssen.«
Sarah spannte unwillkürlich alle Muskeln an, aber Caitlyns Tonfall klang unbeschwert. Also zwang sie sich dazu, einmal tief durchzuatmen und ihren Griff um den Telefonhörer zu lockern. »Hallo, Caitlyn! Frohe Weihnachten! Haben Sie überhaupt Schnee da unten?«
»Nein, aber ich habe gehört, ihr versinkt geradezu darin. Ich wollte Sie nur kurz informieren. Korsakov ist tot.«
»Wie bitte? Wie?«
»Seine eigene Familie hat ihm einen Auftragsmörder auf den Hals gehetzt. Sie hatten Wind davon bekommen, dass er sich auf einen Deal einlassen wollte, da ihm wegen des Mordes an Hal die Todesstrafe drohte. Sie hatten sich bereits vor sieben Jahren mehr oder weniger von ihm losgesagt, als er so viel Geld verloren hatte. Schätze, das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen.«
Sarahs Blick schnellte durch den Raum. Alles war unverändert. Und doch war nichts mehr so wie vorher. »Also müssen wir uns keine Sorgen machen – ich meine, sie werden also nicht –«
»Nein. Sie und ihre Familie sind sicher und von jedem Verdacht befreit.«
Sarah sank zusammen. Atmete geräuschvoll aus. »Puh! Danke, Caitlyn! Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das uns jemand hätte machen können.«
»Gern geschehen.«
Es folgte eine kurze Gesprächspause, in der Sarah ihre Gedanken ordnete. »Caitlyn, träumen Sie je davon? Von jener Nacht? Von Hal?«
Eine Weile hörte sie nur Caitlyns Atem.
»Entschuldigung, ich hätte nicht fragen sollen –«
»Ja, das tue ich«, antwortete Caitlyn ruhig. »Aber es wird besser. Das ist nun mal nichts, was man von einem Tag auf den anderen vergisst.«
Sarah ging durchs Zimmer und schloss die Tür. »Das habe ich mir auch gedacht. Aber Sam, er hat nie Albträume, seit er aus dem Krankenhaus gekommen ist.«
»Sie und Sam teilen also wieder das Bett?« Caitlyn klang leicht überrascht.
»Nein, er schläft immer noch im Büro. Aber es gibt Nächte, da muss ich mich einfach vergewissern, dass er wirklich da ist. Dann gehe ich rüber und schaue ihm beim Schlafen zu.« Sie lehnte sich an die Frisierkommode und betrachtete sich prüfend im Spiegel.
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