Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
»Bin ich verrückt?«
»Sie sind nicht verrückt, Sarah. Für Sie hat der Albtraum letzten Sommer begonnen. Für Sam und Josh war es jetzt endlich vorbei. Sie sind wieder zu Hause, gesund und in Sicherheit. Nun, mal abgesehen von den Schrauben in Sams Knöchel. Außerdem denke ich, dass Männer vielleicht anders damit umgehen. Sie machen sich nicht so viele Sorgen wie wir darüber, was hätte sein können oder was sie anders hätten machen können.«
»Es war so dumm von mir, Alan zu vertrauen.«
»Nein. Das war nur menschlich. Also«, sie schlug einen leichteren Ton an, »wann werden Sie für Sam ein Auge zudrücken und ihm vergeben? Immerhin hat der Kerl sein Leben riskiert, und wie oft wäre er beinahe gestorben, um Sie und Josh zu retten?«
»Sie haben keine Kinder, das können Sie nicht verstehen. Das, was Sam getan hat … « Sarah sprach nicht zu Ende. Es war dasselbe Argument, das sie seit sechs Monaten vorbrachte. Die Worte lösten allerdings längst nicht mehr dasselbe in ihr aus wie noch vor einem halben Jahr. Sie wechselte das Thema. »Ich kann auch immer noch nicht glauben, dass ich Hals Drogensucht nicht bemerkt habe. Wie konnte mir das nicht auffallen?«
»Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe! Über ein Drittel der Meth-Abhängigen sind Menschen in geregelten Verhältnissen. Darunter auch viele Lehrer, Anwälte, Ärzte und eben Polizisten.«
»Da wir gerade von Ärzten sprechen, was ist denn mit Ihnen und diesem Neurochirurgen?«
»Neuroradiologe«, verbesserte Caitlyn sie. »Das läuft gut.«
Sarah hörte ein Lächeln heraus; vermutlich war der Mediziner ganz in der Nähe. Er hatte erkannt, dass Caitlyns Migräneanfälle auf ein verletztes Blutgefäß zurückgingen und ihr so das Leben gerettet.
»Wie geht es Sam in seinem neuen Job als Musiklehrer?«, fragte Caitlyn zurück.
»Er ist ein Naturtalent.« Sarah strahlte. »Sie sollten ihn mit den Kindern sehen. Nebenbei spielt er den Weihnachtsmann, verteilt seinen Finderlohn, den er von der Regierung bekommen hat, an Opfer von Katrina, das Zentrum für vermisste oder ausgebeutete Kinder und andere Organisationen. Freut sich darüber wie ein Schneekönig. Und Sie werden es kaum glauben, er hat endlich einen Song verkauft!«
»Ist nicht wahr. Welchen?«
»Denjenigen, an dem er geschrieben hat, bevor er fortgegangen ist. Er hat ihn ausgerechnet an eine Daily Soap verkauft.«
»Ich will Sie nicht länger aufhalten. Geben Sie ihm und Josh einen Kuss von mir, und drücken Sie die beiden für mich, ja?«
»Danke, Caitlyn! Frohe Weihnachten!«
Sarah legte auf und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Sie sah glücklich aus. Und es waren nicht die Neuigkeiten von Korsakovs Tod, die für das freudige Strahlen ihrer Augen verantwortlich waren. Es war aufgetaucht, als sie Caitlyn von Sam erzählt hatte und dabei dasselbe beglückende, leicht berauschende Gefühl empfunden hatte wie vor sieben Jahren, als sie sich ursprünglich in ihn verliebt hatte.
Unsinn. Sie nahm ihre Haarbürste, strich sich das Haar zurück und setzte sich auf die Kommode. Da erst bemerkte sie, dass etwas fehlte. Verwirrt verließ sie das Schlafzimmer und gesellte sich zu Sam und Josh in die Küche. Wie üblich hatten die beiden mehr Zuckerguss und bunte Streusel auf dem Boden und sich selbst verteilt als auf den Plätzchen. Josh schleckte sich gerade pinkfarbene Glasur vom Finger, sein Mund war bereits völlig verschmiert.
»Josh, warst du in meinem Zimmer?«, fragte sie ihn. »Hast du die Ringschatulle von meiner Kommode genommen?«
Er kicherte und schüttelte den Kopf.
»Das war ich«, sagte Sam. Josh lachte noch lauter, doch Sam drehte sich zu ihm um und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Offenbar hatten sie ein Geheimnis. »Ich hätte nicht gedacht, dass es dir so schnell auffallen würde. Hier.« Er griff in seine Tasche und zog die kleine schwarze Samtschatulle hervor.
Sarah schaute von einem zum anderen – beide grienten sie dämlich an. Wie unglaublich ähnlich sie sich waren, mit dem dunklen Haar und den dunklen, jetzt gerade von Lachfältchen umrandeten Augen.
»Was geht hier vor sich?«, fragte sie und nahm ihm die Schatulle aus der Hand. Sie öffnete sie. Ein funkelnder Diamantring blitzte ihr entgegen. Sarah war sprachlos.
»Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir einen richtigen Ring besorge, sobald ich einen Song verkauft habe«, sagte Sam und machte die Überraschung perfekt, indem er vor ihr auf die Knie sank und nach ihrer Hand griff.
Weitere Kostenlose Bücher