Total Recall
Bühne war professionell mit Scheinwerfern ausgeleuchtet, außerdem spielte ein richtiges Orchester und sorgte für Stimmung. Während des zweistündigen Programms gab es zwischen den Wettkämpfen immer wieder Unterhaltungseinlagen – einen Bikiniwettbewerb, Akrobaten, Schlangenmenschen und zwei Tanztruppen in Trikots und Stiefeletten, die synchron die Beine hochwarfen und kleine Hanteln und Gewichte schwenkten.
Zu meiner Verwunderung stellte ich bei der Pflicht am Vormittag fest, dass ich meine Konkurrenten überschätzt hatte. Die besten Amateure in der »großen« Klasse hatten natürlich besser definierte Muskeln, aber wenn wir alle gemeinsam auf der Bühne standen, fiel ich trotzdem auf. In Wahrheit ist es nämlich so, dass nicht alle Bodybuilder stark sind, vor allem nicht die, die hauptsächlich auf Gerätetraining setzen. Ich hatte jahrelang Gewichtheben trainiert und mit freien Gewichten gearbeitet und dadurch massive Bizeps-, Schulter-, Rücken- und Oberschenkelmuskeln. Ich sah einfach kräftiger und stärker aus als die anderen.
Bis zur Kür hatte sich herumgesprochen, dass ein Monster-Teenager mit einem unaussprechlichen Namen aus dem Nichts aufgetaucht war, und er war wirklich »groß«. Entsprechend laut und begeistert jubelten die Zuschauer, als unsere Gruppe auf die Bühne kam. Ich gewann nicht, aber ich kam viel weiter, als ich oder sonst jemand erwartet hatte. Beim letzten Posedown standen ich und ein Amerikaner namens Chester Yorton auf der Bühne. Die Richter entschieden sich für Chet. Ich muss zugeben, dass sie die richtige Wahl trafen. Chet war fast zehn Kilo leichter als ich, aber sein Körper war fantastisch proportioniert, die Muskeln fein herausgearbeitet und trocken, und seine Posen wirkten geschmeidiger und souveräner. Außerdem hatte er eine tolle Bräune, daneben wirkte ich blass wie Brotteig.
Aber ich war begeistert von meinem überraschenden zweiten Platz. Für mich fühlte er sich wie ein Sieg an. Plötzlich stand ich im Rampenlicht, und die Leute sagten: »Nächstes Jahr gewinnt er.« Englische Bodybuilding-Zeitschriften berichteten über mich, was enorm wichtig war, denn wenn ich mein Ziel erreichen wollte, musste ich in England und den USA bekannt werden.
Doch kaum hatte ich Zeit zum Nachdenken, endete mein Freudentaumel abrupt. Ich begriff, dass Chet Yorton auf dem Siegerpodest gelandet war, nicht ich. Er hatte den Sieg verdient, dennoch war ich überzeugt, einen großen Fehler gemacht zu haben. Was wäre passiert, wenn ich mit der festen Absicht, zu gewinnen, nach London gekommen wäre? Hätte ich mich besser vorbereitet? Wäre meine Vorstellung besser gewesen? Hätte ich gewonnen und wäre jetzt Mister Universum? Ich hatte meine Chancen unterschätzt. Ich mochte dieses Gefühl nicht und ärgerte mich sehr. Aber ich lernte meine Lektion.
Danach ging ich nie wieder zu einem Wettkampf, um nur daran teilzunehmen. Ich ging hin, um zu siegen. Und obwohl ich nicht immer gewann, war das die richtige Einstellung. Ich war wie ein wildes Tier. Wenn jemand vor einem Wettkampf meine Gedanken gelesen hätte, hätte er wahrscheinlich etwas gehört wie: »Ich habe den Sieg verdient. Er steht mir zu. Das Meer soll sich vor mir teilen. Geht mir alle aus dem Weg, ich habe eine Mission zu erfüllen. Tretet einfach beiseite und gebt mir den Pokal.«
Ich sah mich auf dem Siegerpodest mit dem Pokal in der Hand. Alle anderen standen unten. Und ich blickte auf sie herab.
Drei Monate später war ich erneut in London, lachte und tollte mit einer Horde Kinder in einem fremden Wohnzimmer auf dem Teppich herum. Ich war bei Wag und Diane Bennett, denen zwei Fitnessstudios gehörten und die quasi den Mittelpunkt der britischen Bodybuilding-Szene bildeten. Wag war als Richter beim Mister-Universum-Wettkampf dabei gewesen und hatte mich eingeladen, noch einmal nach England zu kommen, bei ihm und Diane zu wohnen und ein paar Wochen zu trainieren. Obwohl die beiden bereits sechs Kinder hatten, nahmen sie mich unter ihre Fittiche und behandelten mich wie ihren eigenen Sohn.
Wag hatte mir klargemacht, dass ich noch hart an mir arbeiten müsse. Ganz oben auf seiner Mängelliste stand mein Posing. Ich wusste, dass es einen großen Unterschied gab zwischen der ordentlichen Ausführung einer Pose und einem ansprechenden Programm. Posen sind Einzelszenen, und ihre Abfolge ist der Film. Um ein Publikum zu faszinieren und mitzureißen, braucht man fließende Posen. Was macht man zwischen der einen Pose und der
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