Tote essen kein Fast Food
eine Etage tiefer in meinem Sitz. Ich hatte nichtdie geringste Lust, mich von diesem keifenden Alten womöglich auch noch dumm anmachen zu lassen.
âNee, keinen Bock jetzt. Da warte ich lieber, bis diese blöde Bibliothek wieder aufmacht.â
âDas dauert noch fast âne Woche. Und du weiÃt nicht mal, ob sie dein Buch haben.â
Auch wieder wahr. âAber der da vorn ist mir gerade zu gallig drauf.â
Jan räusperte sich, strich sein Hemd so glatt, wie es ging, stand auf und steuerte geradewegs auf Blaubär und seine Frau zu. âEntschuldigen Sie bitte, der Herrâ, sagte er und ich musste kichern, âdarf ich Sie etwas fragen?â
âWas?â, schnauzte Blaubär misstrauisch, und das bezog sich nicht auf den Inhalt von Jans Frage, sondern darauf, dass überhaupt jemand das Wort an ihn gerichtet hatte. Schwerhörig war er also auch noch. Als er Jan das Gesicht zuwandte, konnte ich im Profil seine Hakennase erkennen und die lange Narbe auf seiner linken Wange, die von der Form her an Sylt erinnerte. Darüber stach ein Auge aus dem verwitterten Gesicht, so blitzeblau wie ein Aquamarin.
âIch möchte Sie gern etwas fragenâ, wiederholte Jan und lieà sich auf dem Sitz vor dem erstaunten Ehepaar nieder.
âWas denn, mein Jungâ, schaltete sich die Blaubärin ein, die ebenso rundlich war wie ihr Mann hager. Und ebenso freundlich wie er übellaunig. Zum Glück schienen ihre Ohren noch in Ordnung.
âLeben Sie schon lange auf der Insel?â Jan hatte ein paar Dezibel zugelegt, damit er nicht alles zweimal sagen musste.
âNa, selbstvaständlich. Lebenslänglich, min Dschung. Emma und ich, wir sind hier geboan.â
âIch in Westerland und mein Willem in Rantum.â
âRantum, jawollâ, bestätigte Willem Blaubär, der plötzlich viel versöhnlicher wirkte. â1936 war das. Da war hier noch nix los auf der Insel. Noch nich mal der Krieg.â Der Krieg. Bei ihm klang es wie âKriechâ.
âKönnen Sie sich daran noch erinnern?â, fragte Jan, ganz der lässige TV-Kommissar.
âNa, kloar kann ich das.â Willem zog ein kariertes Stofftaschentuch aus der Jackentasche, schnäuzte lautstark seinen gewaltigen Zinken hinein und verstaute das verseuchte Stück Stoff umständlich wieder in der Jacke. âIch war neun, als der Kriech aus war. Vor allem gegen Ende wimmelte es von Militär und Waffen auf der Insel. Warân mehr Soldaten als Schafe hier. Und als Einwohner. Wir hatten vier Seefliegerhorste auf Sylt, jede Menge Bunker in den Dünen, und der Strand war Sperrgebiet.â
âDas war doch sicher spannend für einen kleinen Jungen.â
âNä. Nich so spannend. Gefährlich war das vor allem und zu essen gabâs auch nich viel. Die ham Flachwasserminen am Strand verlegt. Und nachts schoss die Flak.â
âFlak?â, fragte Jan.
âTja, das wisst ihr heute zum Glück allens nich mehr. Flugabwehrkanonen warân das. Mit denen ham se auf die Bomber vom Engländer geschossen, wenn der aufm Weg nach Berlin war. Oder nach Hamburg.â Hamburg. Es wurde Zeit, mich einzuschalten. Ich stand auf und setzte mich neben Jan, der weiter ans Fenster rutschte.
âMoinâ, sagte ich.
âMoin, min Deernâ, sagte Emma. âUnd wer bist du?â
âFanny, aus Hamburgâ, stellte ich mich vor. âMein Vater hat mir erzählt, dass die meisten Bunker nach dem Krieg gesprengt wurden. Haben Sie als Kinder noch in den Trümmern gespielt?â Willems Augen leuchteten auf, als seien sie von einem Sonnenstrahl getroffen worden.
âHamwaâ, sagte er, âwar verboten, aber hamwa trotzdem. Am Standort Puan Klent, da, wo das Schullandheim ist, kannten wir jeden Stein. Und in den geräumten MG-Nestern an der Dünenkante hamwa mit angeschwemmten Stöckern und Brettern vom Strand Scharfschützen gespielt.â
âWas ist ein MG-Nest?â, fragte ich und stellte mir eine Art Seeadlerhorst vor.
âMaschinengewehr-SchieÃstandâ, erklärte Willem. âSieben Stück gab es an der Westküste. Die hatten alle Frauennamen. Mit Anna fingâs an, oben bei List. Dann kamen Berta, Cäcilie und Dora. Und vor Puan Klent lagen Frida, Hilda und Inge. Allens streng nach Alphabet.â Er grinste. âNur Emma ham se ausgelassen.â Mit seiner knorrigen Hand tätschelte er die runden
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