Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war einer der beiden Detectives von der Montrealer Polizei, die an dem Fall arbeiteten. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Zehn Uhr vierzig. Später als ich gedacht hatte. Nach seinem Namen sagte Claudel nichts mehr. Offenbar wartete er darauf, daß ich ihm mein Untersuchungsergebnis mitteilte.
»Ich habe sie gerade auf dem Obduktionstisch«, sagte ich und hörte ein knirschendes, metallisches Geräusch. »Eigentlich müßte ich –«
»La?« unterbrach mich Claudel. Eine Sie?
»Ja.« Ich sah zu, wie eine Made sich sichelförmig zusammenzog, sich wieder streckte und dann dasselbe nach der anderen Richtung wiederholte. Beeindruckend.
»Weiße?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Das kann ich Ihnen erst in einer Stunde sagen.«
Ich sah direkt vor mir, wie Claudel auf seine Uhr blickte.
»Okay. Dann komme ich nach dem Mittagessen vorbei.« Klick. Claudel hätte mich ja fragen können, ob mir sein Besuch in den Kram paßte, aber das war ihm ganz offensichtlich egal.
Ich legte auf und wandte mich wieder der Toten auf dem Tisch zu. Ich nahm das Klemmbrett zur Hand und schlug die nächste Seite auf dem Formularsatz auf. Alter. Daß ich es mit einer Erwachsenen zu tun hatte, wußte ich bereits, denn bei der Untersuchung des Kopfes hatte ich im Mund alle vier Weisheitszähne entdeckt.
Zuerst untersuchte ich die Arme an den Stellen, wo sie von den Schultern abgetrennt worden waren. Die Enden der beiden Oberarmknochen waren voll ausgebildet, nirgends konnte ich eine Epiphysenfuge erkennen, die auf ein noch nicht voll abgeschlossenes Wachstum hätte schließen lassen. An den Enden der Oberschenkelknochen war dasselbe zu beobachten.
Irgend etwas an diesen abgetrennten Gelenken war allerdings merkwürdig. Es war ein Gefühl, das über den normalen Abscheu angesichts der Brutalität des Täters hinausging, aber es war viel zu schwach, um konkret zu sein. Als ich das linke Bein zurück auf den Tisch legte, war mein Magen kalt wie Eis. Es war dieselbe Angst, die ich schon am Fundort der Leiche gespürt hatte. Ich schüttelte sie ab und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Wie alt war die Tote? Wenn man eine Leiche identifizieren wollte, war das Alter enorm wichtig.
Ich nahm ein Skalpell und legte die Knie- und Ellenbogengelenke frei. Das weiche, verweste Fleisch ließ sich leicht entfernen. Auch hier sah ich, daß die Knochen vollkommen ausgebildet waren. Um ganz sicher zu gehen, mußte ich natürlich Röntgenaufnahmen machen, aber ich konnte auch so schon sagen, daß die Knochen der Toten ausgewachsen waren. An den Gelenken konnte ich weder Lippenbildung noch altersbedingte Abnutzung feststellen. Ich hatte also eine junge Erwachsene vor mir. Das stimmte auch mit der fehlenden Abnutzung überein, die ich an den Zähnen hatte feststellen können.
Aber ich wollte es genauer wissen. Claudel erwartete eine auf ein paar Jahre eingeschränkte Altersangabe von mir. Also besah ich mir die Enden der Schlüsselbeine. Das rechte hatte sich zwar vom Brustbein gelöst, aber die Gelenkpfanne war noch in einem Knoten aus getrocknetem Knorpel und Bindegewebe verborgen. Mit einer Schere schnitt ich so viel wie möglich von dem harten Material ab und wickelte das Ende des Schlüsselbeins ebenfalls in ein feuchtes Tuch, um den Rest des Knotens aufzuweichen.
Dann widmete ich mich wieder dem Becken. Nachdem ich das Tuch dort entfernt hatte, schnitt ich den Knorpel, der die beiden Beckenhälften vorne zusammenhielt, vorsichtig mit dem Skalpell auseinander. Obwohl die Feuchtigkeit den Knorpel etwas nachgiebiger gemacht hatte, war es eine langwierige und mühevolle Arbeit. Als ich die Schambeine schließlich voneinander getrennt hatte, schnitt ich die wenigen eingetrockneten Muskeln durch, die das Becken hinten mit dem unteren Ende der Wirbelsäule verbanden und trug es zum Waschbecken, wo ich die Schambeine unter Wasser setzte.
Zurück an der Leiche, entfernte ich das feuchte Tuch vom Schlüsselbein. Das harte Gewebe um das Gelenk war inzwischen etwas weicher geworden, und ich schnitt abermals soviel davon ab, wie ich konnte. Dann füllte ich ein Laborglas mit Wasser, stellte es neben den Brustkorb und steckte das Ende des Schlüsselbeins hinein.
Ich sah hinauf zur Wanduhr. Zwölf Uhr fünfundzwanzig. Ich trat vom Autopsietisch zurück, zog die Handschuhe aus und richtete mich auf. Langsam. Mein Rücken fühlte sich an, als hätte eine komplette Footballmannschaft darauf ihr Training
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