Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
geblieben.
Als nächstes legte ich Arme und Beine neben den Torso. Die Gliedmaßen waren nicht so ausgetrocknet wie der Brustkorb und das Becken, daher fand ich an ihnen noch große Teile von halbverwestem, weichem Gewebe. Als ich die Glieder aus dem Leichensack nahm, setzte ein fahlgelbes Gewimmel ein, dessen Anblick mir Übelkeit verursachte. Es waren unzählige Maden, die sich wie eine lebende Decke in einer schlaffen, wellenförmigen Bewegung von den Leichenteilen entfernten, sobald diese dem Licht ausgesetzt wurden. Wie ein leichter, aber beständiger Regen fielen sie auf den Autopsietisch und von dort auf den Boden, wo sie wie gelbe, sich windende Reiskörner vor meinen Füßen lagen. Ich versuchte, nach Möglichkeit nicht auf sie zu treten. An die Maden würde ich mich wohl nie gewöhnen.
Ich nahm mein Klemmbrett zur Hand und fing an, das darauf befindliche Formular auszufüllen. Name: Inconnue. Unbekannt. Datum der Autopsie: 3. Juni 1994. Untersuchende Beamte: Luc Claudel, Michel Carbonneau von der Section des homicides, dem Morddezernat der Polizei in Montreal.
Ich trug noch die Nummer des Polizeiberichts, die Leichennummer und die Untersuchungsnummer des Laboratoire de Médecine Legal, abgekürzt LML-Nummer, ein. Wie jedes Mal angesichts solch nüchterner Zahlen packte mich die Wut über die arrogante Gleichgültigkeit unserer Bürokratie. Tote, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind, haben keinen Intimbereich mehr. Nach dem Leben wird ihnen auch noch ihre Würde genommen. Ihre Leiche wird herumgetragen, untersucht, photographiert, mit einem Zettel am großen Zeh versehen und zur Entnahme von Proben aus dem Kühlfach geholt. Auf diese Weise wird das Opfer zu einem Beweis- und Ausstellungsstück, das von Kriminalbeamten, Pathologen und forensischen Spezialisten begutachtet und schließlich den Geschworenen präsentiert wird. Obwohl ich selbst ein Teil dieser Untersuchungsmaschinerie bin, kann ich die Gefühllosigkeit, mit der sie den Toten ihre persönlichsten Geheimnisse entreißt, oft nur schwer ertragen. Ich rechtfertige meine Arbeit damit, daß ich unbekannten Toten ihren Namen wiedergebe. Wenn sie schon einen gewaltsamen Tod erleiden mußten, so sollen sie wenigstens nicht anonym beerdigt werden.
In Abänderung meiner normalen Untersuchungsroutine suchte ich mir ein bestimmtes Formblatt auf meinem Klemmbrett heraus. Die Aufnahme des vollständigen Skelettbildes mußte warten, denn die Detectives der Mordkommission wollten so schnell wie möglich Geschlecht, Alter und Rasse der Leiche wissen.
Letztere war noch das Offensichtlichste, denn die roten Haare und das, was von der Haut noch übrig war, deuteten auf einen Weißen oder eine Weiße hm. Natürlich wußte ich, daß der Verwesungsprozeß bisweilen für die seltsamsten Verfärbungen an einer Leiche sorgen kann, und deshalb würde die Rasse des Opfers mit hundertprozentiger Sicherheit erst anhand der gesäuberten Knochen bestimmt werden können.
Was das Geschlecht anbelangte, so tippte ich auf weiblich. Nicht wegen der langen Haare, denn die könnte ja auch ein Mann haben, sondern wegen der zarten Gesichtszüge und des zierlichen Körperbaus.
Ich drehte das Becken ein wenig zur Seite und besah mir die Einkerbung unterhalb der Beckenschaufel. Sie war breit und flach. Ich brachte das Becken wieder in seine Ausgangslage und untersuchte die Schambeine, die den vorderen unteren Teil des Beckens bilden. Auf den beiden bogenförmigen Knochen konnte ich feine, leicht erhöhte Linien erkennen, die nach hinten in ausgeprägte Dreiecke zusammenliefen. Diese Anzeichen waren typische Merkmale für eine Frau. Selbstverständlich würde ich die Knochen später noch genau vermessen und ihre Daten vom Computer überprüfen lassen, aber auch so bestand schon jetzt für mich kein Zweifel mehr, daß ich es mit den sterblichen Überresten einer Frau zu tun hatte.
Als ich die Schambeine mit einem feuchten Lappen abdeckte, erschreckte mich das laute Klingeln des Telefons. Vor Anspannung hatte ich gar nicht bemerkt, wie still es in dem Autopsieraum war. Auf meinem Weg zum Telefon stieg ich über die Maden am Boden und erinnerte mich dabei an ein Spiel aus meiner Kindheit, bei dem man nicht auf die Fugen zwischen zwei Gehsteigplatten treten durfte.
»Hier Dr. Brennan«, sagte ich, während ich die Schutzbrille auf die Stirn schob und mich in den Stuhl neben dem Telefon sinken ließ. Mit einem Kugelschreiber schnippte ich eine Made vom Tisch.
»Claudel«,
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