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Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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dadurch ruhig und beherrscht wirkte.
    Ich nahm die Schambeine aus dem Wasser und zog sie vorsichtig auseinander. Dann stocherte ich mit einer Sonde so lange an den Rändern des Knorpels am Ende des rechten Schambeins herum, bis sich dieser vom Knochen löste. Die darunter liegende Knochenfläche war von horizontal verlaufenden Furchen und Rippen durchzogen. Der äußere Rand der Fläche sah aus wie ein zarter, aber unvollständiger Kranz. Ich unterzog das linke Schambein derselben Prozedur und stellte fest, daß es genauso aussah.
    Claudel hatte sich vom Türrahmen nicht weggerührt. Ich nahm das Becken und trug es zur Arbeitsfläche. Dann zog ich eine an einem Wandarm befestigte Lupenlampe heran und schaltete sie ein. Auf dem von hellem Neonlicht beleuchteten Knochen konnte ich mit Hilfe des Vergrößerungsglases Details sehen, die dem bloßen Augen verborgen bleiben. Ich untersuchte den oberen Rand beider Hüftbeine und fand, was ich erwartet hatte.
    »Monsieur Claudel«, sagte ich ohne aufzublicken. »Sehen Sie sich doch das einmal an.«
    Claudel trat hinter mich, und ich bewegte meinen Kopf zur Seite, damit er durch die Lupe blicken konnte. Dann deutete ich auf eine Unregelmäßigkeit am oberen Rand des Hüftbeins. Zum Zeitpunkt des Todes hatte sich der Beckenkamm bereits verknöchert.
    Ich legte das Becken wieder zur Seite. Claudel sah es fasziniert an, aber er scheute sich davor, es zu berühren. Ich ging hinüber zum Autopsietisch, um das Schlüsselbein zu untersuchen, aber ich wußte schon, was ich dort finden würde. Nachdem ich es aus dem Wasser genommen hatte, entfernte ich das aufgeweichte Gewebe am brustseitigen Ende des Knochens. Ich legte die Gelenkfläche frei und winkte Claudel heran. Ohne etwas zu sagen, deutete ich auf den Knochen. Seine Oberfläche war ebenso wellig wie die der Schambeine. In der Mitte befand sich eine kleine Erhebung mit ausgeprägten und noch nicht verwachsenen Rändern.
    »Und? Was bedeutet das nun?« fragte Claudel. Ihm standen zwar Schweißperlen auf der Stirn, aber seiner Stimme war seine Nervosität nicht anzuhören.
    »Daß die Tote jung war. Vermutlich Anfang zwanzig.«
    Ich hätte ihm natürlich erklären können, wie man an den Knochen das Alter eines Menschen ablesen kann, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, daß er im Augenblick kein allzu aufmerksamer Zuhörer sein würde. Also wartete ich. Weil an meinen Handschuhen noch Fetzen von Bindegewebe hingen, hielt ich die Hände von mir gestreckt mit den Handflächen nach oben wie eine Bettlerin. Claudel schreckte zurück, als wäre ich mit dem Ebola-Virus infiziert. Seine Blicke waren zwar auf mich gerichtet, aber er schien durch mich hindurchzusehen, während er im Kopf die neue Information mit seiner Liste abglich.
    »Gagnon«, sagte er schließlich. Es war eine Feststellung, keine Frage.
    Ich nickte. Isabelle Gagnon. Dreiundzwanzig Jahre alt.
    »Ich sage dem Leichenbeschauer, er soll sich die Unterlagen ihres Zahnarztes besorgen«, sagte Claudel.
    Ich nickte abermals.
    »Todesursache?« fragte Claudel.
    »Steht noch nicht fest«, antwortete ich. »Aber vielleicht geben die Röntgenbilder oder die gereinigten Knochen mehr Aufschluß.«
    Claudel machte auf dem Absatz kehrt und verließ ohne Abschiedsgruß den Autopsieraum. Das überraschte mich zwar, aber ich war froh, ihn los zu sein. Dieses Gefühl beruhte vermutlich auf Gegenseitigkeit.
    Ich zog die Latexhandschuhe aus und warf sie in den Abfall. Dann ging ich zum großen Autopsiesaal Nummer eins, um Daniel zu sagen, daß ich mit meiner Leiche für heute fertig sei. Außerdem bat ich ihn, mir Röntgenaufnahmen von allen Körperteilen und dem Schädel zu machen und zwar aus verschiedenen Winkeln. Auf dem Weg nach oben schaute ich noch im histologischen Labor vorbei und gab Bescheid, daß die Knochen der Leiche nun ausgekocht werden könnten. Allerdings bat ich um sorgfältige Behandlung, da die Tote zerstückelt worden sei und deshalb die Oberflächen der Knochen und Gelenkpfannen besonders wichtig für mich seien. Eigentlich war dieser Hinweis nicht nötig, denn niemand konnte Knochen so gut präparieren wie Denis, der Leiter des histologischen Labors. Ich war mir sicher, daß er mir in zwei Tagen ein vollständig gereinigtes und unbeschädigtes Skelett übergeben würde.
    Den Rest des Nachmittags widmete ich dem Schädel, den ich am Vortag zusammengeklebt hatte. Obwohl er bei weitem nicht vollständig war, reichte das Material, um seinen früheren Besitzer zu

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