Tote Maedchen luegen nicht
hast du mich nicht in Frieden gelassen, Tyler? Unser Haus. Mein Zimmer. Dort habe ich mich sicher gefühlt. Doch du hast mir diese Sicherheit genommen.
Okay... nicht du allein.
Ihre Stimme zittert.
Aber du hast mir das genommen, was noch da war.
Sie macht eine Pause. Und während dieser Pause wird mir bewusst, mit welcher Intensität ich ins Nichts starre. Ich starre in Richtung meines Bechers, der am anderen Ende des Tisches steht. Aber ich sehe ihn nicht an.
Ich bringe nicht den Mut auf, die Leute in meiner Umgebung anzuschauen. Sie fragen sich bestimmt längst, warum ich ein so gequältes Gesicht mache. Wer dieser bemitleidenswerte Typ ist, der sich irgendwelche alten Kassetten anhört.
Wie wichtig ist dir deine persönliche Sicherheit, Tyler? Was bedeutet dir deine Privatsphäre? Vielleicht weniger als mir, aber darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.
Ich blicke aus dem Fenster, an meinem Spiegelbild vorbei, auf die spärlich beleuchtete Terrasse. Ich kann nicht erkennen,
ob der Tisch hinter dem efeubewachsenen Pfeiler noch immer besetzt ist.
Der Tisch, der einst der zweite sichere Ort war, an den Hannah sich hin und wieder zurückgezogen hat.
Wer ist dieses rätselhafte andere Mädchen, Tyler, das in deiner Geschichte eine so tragende Rolle spielt? Die so selig lächelte, während ich ihr den Rücken massierte. Die mir half, dich zu erwischen. Soll ich es dir sagen?
Das hängt davon ab, wie sie sich später mir gegenüber verhalten hat.
Für die Antwort... leg einfach Kassette drei ein.
Ich will aber wissen, was mit mir ist, Hannah. Ich will es endlich hinter mich bringen.
Übrigens stehe ich jetzt wieder vor deinem Fenster, Tyler. Ich war woanders hingegangen, um deine Geschichte zu beenden, doch jetzt bin ich zurück, weil du schon vor längerer Zeit das Licht gelöscht hast.
Lange Pause. Raschelnde Blätter.
Dann höre ich, wie sie an das Fenster klopft. Zwei Mal.
Keine Sorge. Du wirst es noch früh genug erfahren.
Ich nehme den Kopfhörer ab, wickele das gelbe Kabel um den Walkman und stecke ihn in die Jackentasche.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes steht ein Regal mit ausrangierten alten Büchern, vorwiegend Taschenbüchern, Esoterik, Science-Fiction und so was.
Vorsichtig schlängele ich mich zu ihm hinüber. Neben einem voluminösen Lexikon steht ein breiter Band, von dem sich der Buchrücken gelöst hat. WÖRTERBUCH hat jemand in großen schwarzen Buchstaben daraufgeschrieben. Im selben
Regal befinden sich auch fünf verschiedenfarbige Bücher, ungefähr so groß wie Jahrbücher, doch mit leeren Seiten. Jedes Jahr kommt ein neues hinzu. Sie dienen als Notizbücher, die den Gästen zur freien Verfügung stehen.
Der Buchrücken ist jeweils mit einer Jahreszahl beschriftet. Ich ziehe das Jahr heraus, in dem ich auf der Highschool begonnen habe. Vielleicht hat sich ja auch Hannah bei einem ihrer vielen Besuche im Monet’s darin verewigt. Vielleicht in Form eines Gedichts. Oder sie hat andere Talente besessen, von denen ich nichts weiß. Vielleicht konnte sie gut zeichnen. Ich habe das dringende Bedürfnis, etwas anderes mit ihr in Verbindung zu bringen als diese schrecklichen Kassetten. Ich will sie in einem anderem Licht sehen.
Da die meisten Einträge datiert sind, blättere ich vor bis September. Dort werde ich fündig.
Ich schließe das Buch, behalte aber meinen Zeigefinger auf der betreffenden Seite und nehme es mit an meinen Tisch. Ich nippe gemächlich an meinem lauwarmen Kaffee, schlage das Buch wieder auf und lese die Wörter, die in roter Tinte am Kopf der Seite stehen: Alle brauchen Freunde, die füreinander da sind: Einer für alle - alle für einen!
Darunter die Initialen J.D. A.S. H.B.
Jessica Davis. Alex Standall. Hannah Baker.
Unter den Initialen liegt ein zerknittertes Foto, das auf dem Kopf steht. Ich drehe es um.
Es zeigt Hannah.
Oh Gott, wie sehr ich ihr Lächeln liebe. Ihre Haare, die damals noch lang waren. Sie hat einer Mitschülerin den Arm um die Taille gelegt. Courtney Crimsen. Hinter ihnen steht eine Gruppe anderer Schüler. Jeder hält entweder eine Flasche, eine Dose oder einen roten Plastikbecher in der Hand.
Das Licht auf der Party ist schummrig und Courtney sieht nicht besonders glücklich aus. Zornig allerdings auch nicht.
Eher nervös, finde ich.
Warum?
KASSETTE 3: SEITE A
Courtney Crimsen. Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen. Schöne Haare. Sympathisches Lächeln. Perfekte Haut.
Außerdem bist du sehr
Weitere Kostenlose Bücher