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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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strategischen Abwehr (Satelliten mit Partikelstrahlwaffen) mit dem Frühwarnsystem der Zonengrenze gekoppelt. Ein Radarsignal in Form einer Puppe ‒ und schon zuckte ein Partikelstrahl vom Himmel herab und nagelte die flüchtende Puppe auf dem Boden fest, wo sie von einem Grand mal geschüttelt wurde. Wenn ich nachts vom Dach des Hochhauses, in dem ich wohnte, auf die Sümpfe von Rainham hinunterschaute und sah, wie die Scheinwerfer den Himmel absuchten, stellte ich mir vor, wie ich hoch über der verlassenen Stadt unseren Häschern entschlüpfte und in der Wildnis von Englands anderem Ufer untertauchte. Aber niemandem gelang es, die Ringstraße der M25 zu überqueren.
    »Das zahlen wir ihr heim, Ig«, flüsterte ein Junge rechts neben mir. Er hieß Myshkin. Myshkin wirkte mit seinen ständig schmutzigen Knubbelknien wie eines der Schmuddelkinder in den Illustrationen von Phiz. Er drehte den Aufschlag seiner Jacke um und zeigte mir ein winziges Stahlabzeichen: die geflügelte Doppelhelix der Reinheitsfront. »England den Menschen«, sagte er und zog ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche. Myshkin war ein Medicine Head.
    Die Glocke läutete; Mittagspause. Ich ließ mich von der Strömung forttragen: Die Jungen und Mädchen eilten durch die höhlenartigen Gänge unserer Schule und stürzten in das grelle Sonnenlicht hinaus.
    Auf dem Schulhof ‒ der Asphalt in der Sommerhitze halb geschmolzen ‒ tummelten sich die Kinder jener Wirtschaftsflüchtlinge, die sich seit Ende des letzten Jahrhunderts auf der Suche nach Nahrung und Arbeitsplätzen westwärts gewandt hatten. Der alte nationalistische Hass, der einmal Armenier gegen Aserbaidschaner, Ungarn gegen Rumänen und so ziemlich jeden gegen die entthronten Russen aufgehetzt hatte, war von einem neuen Chauvinismus abgelöst worden, in dem Speziesismus Ethnizität verdrängte. Auf dem Schulhof zelebrierten Menschenkinder, die sich vor der Seuche in einander bekriegende Stämme aufgespalten hätten, in der Sonne ihren auf den Kopf gestellten Kosmopolitismus. Sie grenzten sich ab gegen die Rekombinanten, die in den Schatten der überdachten Fahrradstellplätze verbannt waren.
    Ich kauerte an einer Wand; mein Mittagessen bestand aus einer Tüte Kartoffelchips. Um mich herum zog eine graue, mit Flechten und vertrocknetem Moos übersäte Fassade einen Steinvorhang vor das von Überschwemmungen verwüstete Niemandsland. Über dem Beton waren nur einige wenige heruntergekommene Hochhäuser zu erkennen. Wir alle wohnten dort. Sie boten Zuflucht vor dem Winterhochwasser.
    Warum stieg das Wasser nicht jetzt und ertränkte meine Schande? Kommt herbei, ihr Fluten! Lasst die Themse anschwellen! Überspült die Dämme!
    Aber die Straßen waren so trocken wie eine staubgefüllte Zisterne. Ich hasste den Juni.
    Aus Dads kleiner, aber kompromissloser Bibliothek hatte ich mir Die Abenteuer von Tom Sawyer ausgeliehen. (»Die Schlacht der Bücher«, hatte er lachend gesagt, während er eines meiner staatlichen Lehrbücher mit Hašek, Havel oder Seifert zu Tode prügelte.) Das Buch öffnete sich an einer Stelle, die ich immer und immer wieder gelesen hatte. Tom war zu spät zur Schule gekommen und musste deshalb bei den Mädchen sitzen. Ihm war das nur recht, denn es bedeutete, dass er neben Becky Thatcher saß, der Neuen, für die er heimlich schwärmte. Becky beachtete ihn nicht. Schließlich gab er ihr einen Pfirsich. Und malte Bilder auf seine Schiefertafel.
    Nun begann Tom etwas auf die Tafel zu kritzeln, was das Mädchen wieder nicht sehen sollte. Aber sie ließ sich nicht mehr abweisen. Sie verlangte, es zu sehen.
    » Es ist nichts, « sagte Tom gleichgültig.
    »Es ist doch was.«
    »Nein, es ist nichts. Du brauchst’s nicht zu sehen.«
    »Doch, ich will ’ s sehen. Ich will. — Laß mich sehen, bitte!«
    »Ich will’s dir sagen.«
    »Nein, ich will nicht — ich will, ich will, ich will es sehen!«
    »Aber du sagst es doch niemand? So lang du lebst?«
    »Nein, ich sag’s niemand. Jetzt laß mich sehen!« Und sie legte ihre kleine Hand auf seine, und ein kleines Handgemenge folgte. Tom tat, als wehre er sich im Ernst, ließ aber doch seine Hand langsam abgleiten, bis die Worte sichtbar wurden: »Ich liebe dich!«
    »Garstiger Junge!« Dabei gab sie ihm einen kleinen Klaps, schien aber doch nicht allzu böse zu sein.
    Warum war es nicht genau so? Warum war es nie genau so? Ich suhlte mich in Selbstmitleid. Ich würde nie erwachsen werden, aber ich würde auch nie ein Kind sein;

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