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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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als Liebe und Pornografie noch voneinander zu unterscheiden gewesen waren. Mir bedeutete das alles nichts. Ich war ein Niemalskind, das nur zur Schule geschickt wurde, um der Welt draußen zu zeigen, dass es noch Hoffnung gab, dass wir es nicht verdient hatten, im Stich gelassen zu werden, dass wir die Nahrungsmittel und all die anderen Sachen wert waren, die aus dem Nachthimmel fielen. Tom und Becky? Vergesst sie. Geschichte? Verflucht sollte sie sein. Liebe? Missbraucht sie.
    Es läutete zum letzten Mal. Zeit, nach Hause zu gehen. Die Korridore, ewig feucht wie unsere klebrigen halbwüchsigen Körper, lenkten die wilde Flucht um vier Uhr auf die Straßen hinaus. Myshkin steckte mir ein Skalpell zu, und wir rannten durch die Schulkinderhorden, um uns im ausgetrockneten Schlick des Parks mit seinem Bruder zu treffen. Ein Polizist ‒ eine Witzfigur, die unserer heldenhaften Bürgerwehr angehörte ‒ schien zu ahnen, was wir vorhatten, und schlenderte davon.
    Wir legten uns im Schatten einer absterbenden Hecke, wo uns die Sonne nicht besänftigend in ihre Arme schließen konnte, auf die Lauer, während unsere Schule, im Stil postmoderner Gotik erbaut (von den ach so witzigen Anspielungen auf viktorianische Lagerhäuser, Armenhäuser und Schuhcremefabriken ganz zu schweigen), unpassende Stimmungsmusik spielte ‒ eine schwermütige schwarze Masse vor dem strahlenden und trügerisch optimistischen Hintergrund des spätnachmittäglichen Himmels. Diese Stimmung hatte ich mir schon lange angeeignet; sie haftete an mir, wie der Geruch von Verfall und Schimmel an meinen Kleidern, an meiner Haut haftete; ich war in ihrem stinkenden Bann aufgewachsen. Seit meiner frühsten Kindheit hatte mir die Schule ‒ nicht die sichtbare Schule, die Schule des äußeren Scheins und der Disziplin, sondern eine Geisterschule, eine Schule der Empfindsamkeit ‒ durch das Ungestüm des Herzens diese wollüstige Stimmung eingeimpft, diese Musik der lüsternen Verzweiflung. In meinen Erinnerungen dominierten Bilder in den sonderbarsten Perspektiven ‒ monströse Nahaufnahmen, Verzerrungen, Unschärfen, dümmliche Dialoge: wie ich im Glockenturm verprügelt worden war (die Glocke läutete noch immer, hallte weithin über die Wohnsiedlungen und Sümpfe); die Schmierereien und Strichmännchen auf der Jungentoilette; der Unterricht in posthumaner Biologie, der Biologie von Herr und Knecht; und, in letzter Zeit, der halbe Meter schwarzgelber Haare, das görenhafte Verhalten, das Versprechen von Transzendenz.
    Eine Gruppe von Schülern schlängelte sich, im Dunst nur verschwommen erkennbar, zwischen den galligen Tümpeln hindurch, die noch nicht verdunstet waren. Die Myshkins legten ihren Mundschutz an und zogen ihre Skalpelle blank. Es brauchte keine Partikelwaffen und keinen magischen Staub; Primavera war noch immer halb ein Mädchen ‒ aufsässig, aber schwach. Als sie vorbeilief, brachen die Myshkins aus den Büschen; Primaveras Puppenfreundinnen stoben auseinander und ergriffen die Flucht. Bis sie in den Cricket-Pavillon geschleppt worden war, hatten sich fünfzehn bis zwanzig Jungen und ein paar Mädchen ‒ menschliche Mädchen ‒ uneingeladen der Versammlung angeschlossen.
    Im Pavillon war es heiß und roch nach Urin. Primavera kniete halbnackt im Schatten (sie hatten ihr die Bluse aufgerissen und die Hände mit dem BH auf den Rücken gefesselt), den Kopf gesenkt, und weinte.
    Wir verhöhnten sie.
    »Hexe!«
    »Kindermörderin!«
    » Vrolok! «
    »Totes Mädchen!«
    »Wechselbalg!«
    » Robotnik! «
    »Tagespatient!«
    »Blutegel!«
    Irgendwann wurde diese Übung in Sadoschlock (einer müden Anleihe bei einem von Myshkins Wichsblättern) langweilig. Außerdem bestand, trotz der Zaghaftigkeit unserer Gesetzeshüter, immerhin die Möglichkeit, dass Primaveras Peiniger entdeckt werden würden (damals verfügten Puppen noch über ein paar Rechte), und so verschwanden sie nach und nach; bis zuletzt nur noch einer übrig war. Ich. Als wir alleine waren, kam ich aus meinem Versteck hinter einem Spind hervor. Sie musterte mich unter schwarzen metallischen Wimpern hervor, mit dem Blick eines in die Ecke getriebenen Tiers ‒ mitleiderregend, aber auch berechnend. Ich verspürte ein Stechen in den Wangen; und wandte mich ab. Dann biss ich mir entschlossen auf die Unterlippe und drehte mich wieder zu ihr um. »Hexe«, sagte ich, meine Stimme heiser vor Liebe, und trat ihr in die Seite. Die Angebetete stöhnte auf und kippte vornüber.
    Ich ging in

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