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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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die Seuche ...«
    Aus dem Fond des Wagens waren Stimmen zu hören:
    »Himmel, das sind doch nur Kinder!«
    »Das Nimmerland ‒ so wird London jetzt genannt. Dort wächst niemand mehr heran. Die Stadt ist voller Kinder.«
    »Verlorene Mädchen, verlorene Jungen.«
    »Um die beiden musst du keine Tränen vergießen. Das sind Tiere. Die würden sogar eine alte, lahme, blinde und schwangere Frau aufschlitzen, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten.«
    »Echt wahr? Verdammte Scheiße, was wir nicht alles für die Demokratie tun!«
    »Mensch, es geht darum, Brücken zu bauen. Schließlich bestehen zwischen England und den Staaten besondere Beziehungen!«
    »Mit Herz und Verstand«, sagte Morgenstern, »fürs Vaterland.« Die beiden Gorillas im Fond kriegten sich nicht mehr ein.
    Alter, du sitzt in der Scheiße, dachte ich bei mir, als wir auf das Gelände der US-amerikanischen Botschaft fuhren.
    Sie steckten uns in einen dunklen, fensterlosen Raum; ein Marine hielt neben der Tür Wache. Das Schnalzen der Echsen und das Quaken der Frösche hallten durch die Nacht. Der Deckenventilator wirbelte die Schatten auf ...
    »Oh?«, hauchte sie. »Habe ich dir wehgetan?«
    Ihr linker Eckzahn stand, ein Blutstropfen auf dem Schmelz, kokett vor. »Lil-im«, flüsterten einige unserer Klassenkameraden, »Lil-im, Lil-im.«
    »Hört sofort auf!«, sagte Mr. Spink, unser Klassenlehrer, mit seinem vom Wodka ruinierten Kehlkopf krächzend um ein Mindestmaß an Autorität bemüht. »Ich hab euch das schon einmal gesagt ‒ in meiner Klasse will ich von diesem abergläubischen ›Lilim‹-Unsinn nichts hören.«
    Hände schossen nach oben.
    »Sir«, sagte ein Mädchen ‒ ein menschliches Mädchen ‒, »Primavera hat gerade Ignatz gebissen.« Das allgemeine Flüstern erreichte seinen Höhepunkt und ebbte ab.
    »Primavera?«
    »Ich hab überhaupt nichts getan, Sir, ehrlich!« Ein Bleistift fiel zu Boden. Meine Klassenkameraden scharrten mit den Füßen, kauten auf den Lippen: ein lauerndes Rudel junger Wölfe.
    »Was ist mit dir, Zwakh?«
    »Alles in Ordnung, Sir«, erwiderte ich, meine Wangen noch immer puterrot. Primavera warf einen Blick über die Schulter, die Augen schmal vor Verachtung.
    »Primavera, ich glaube, du solltest besser zur Krankenschwester gehen.« Aus der Verachtung wurde Verwirrung, und ihre grün gesprenkelten Augen weiteten sich vor Angst.
    Das würde einen Termin im Krankenhaus bedeuten, bei dem sie eingehend untersucht und eine aktualisierte Prognose in ihre Akte aufgenommen werden würde. Eine Puppe blieb eine Tagespatientin (so hieß es), bis ihr unstillbarer Appetit sie zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit machte. War sie erst einmal interniert ‒ die Einlieferungspapiere wurden von den Eltern oder einem Vormund mit manchmal erstaunlicher Hast unterschrieben ‒ und mit magischem Staub außer Gefecht gesetzt, endete ihr kurzes Leben (so hieß es) unter Bedingungen, die jenen in den Nervenheilanstalten des 18. Jahrhunderts glichen, in einem Irrenhaus, wo sie, während Visionen von aufgeschlitzten Halsschlagadern und Blutbanketten sie peinigten, an ihrem eigenen monströsen Speichelfluss erstickte (so hieß es). Die Leiche wurde für die medizinische Forschung verwendet.
    So hieß es. Aber wer glaubte das schon? Die kleinen Jungs auf dem Spielplatz; die Erwachsenen, die sich an Straßenecken Gerüchte zuflüsterten; das Fernsehen mit seiner verschlüsselten Bezugnahme auf das Schicksal Londons? An einem heißen Sommertag, das Parfum des hübschesten Mädchens der Schule in der Nase, konnte man alles glauben.
    Primavera stolzierte aus dem Klassenzimmer hinaus; mit einem Blick zurück, der mich und das ganze Menschengeschlecht verfluchte, schloss sie die Tür.
    Unser Lehrer hatte sich gesetzt und starrte den Stapel Schreibhefte an, die er seit Monaten nicht einmal angefasst, geschweige denn aufgeschlagen hatte. »Stille Verzweiflung«, nannte Dad dergleichen (wobei die Stille manchmal von Mr Spinks trockenem Husten unterbrochen wurde ‒ seine Lunge wurde von dem mutierten Bazillus bestürmt, der der Seuche vorausgegangen war). Ich blickte zum Fenster hinaus. Sperlinge drehten über den Dächern verlassener Häuser ihre Kreise, Hunde streiften durch leere Straßen.
    Dad sagte, man könne bis zur M25 laufen, wenn man die entvölkerten Vorstädte durchquerte. Dort begann die verbotene Zone. Für Menschen Stacheldraht, Tretminen, Wachtürme; für Puppen der Schirm. Die Amerikaner hatten Bestandteile ihrer

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