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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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haben ihre Probleme.« Mosquito trat zu Primavera. Sie blickten beide zur Farm hinüber und zu der sich dahinter erstreckenden Wildnis. »Endlose Türen«, murmelte Primavera. »Alle geschlossen. Und die Spiegel. Alle schwarz ...«
    »Was ist los, kleine Ausreißerin?«, fragte Mosquito.
    »Eine Freundin hat sie im Stich gelassen«, sagte ich. »Eine gute Freundin. Ihre einzige echte Freundin auf der ganzen Welt. Glaubte sie jedenfalls.«
    »Iggy, du bist betrunken.«
    »Jetzt fahren wir einfach nur noch durch die Gegend. Und versuchen, den Horizont einzuholen. Ich bin alles, was sie noch hat. Alles ...«
    »Jetzt heul hier nicht rum, Kleiner«, sagte Primavera. Ich kippte meinen Cognac hinunter und streckte den Arm aus, damit der Lustknabe mir nachschenkte.
    Primavera hakte sich bei unserem Gastgeber unter. »Tut mir leid. Wenn Iggy trinkt, wird er ...« Mosquito lächelte herablassend. »Ihre Farm«, sagte sie, »ist ganz schön groß.«
    »Als Mama und Papa gestorben sind«, erwiderte er, »bin ich zurückgekommen. Keine Brüder. Keine Schwestern ...«
    »Es ist alles so braun. Wie eine Wüste. Da draußen, meine ich.«
    »Noch gibt es dort Leben. Der Reis gedeiht. Aber früher war alles grüner. Alles. Wir haben uns angewöhnt, die Nase zu rümpfen ‒ über uns selbst und unsere Kultur. Unseren Selbstwert haben wir an dem Materialismus des Westens gemessen. Unsere Götter waren Markennamen. Unsere Ideologie lautete: Ich shoppe, also bin ich. Die Industrialisierung und die Zeit danach haben die Kluft zwischen Reich und Arm noch vergrößert. Alles drehte sich um Wirtschaftswachstum. Und Rohstoffe verkamen zu Handelsgütern. Heutzutage ist Armut so weit verbreitet wie vor hundert Jahren. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ein Bauer jetzt nicht nur mit den herkömmlichen Schwierigkeiten fertig werden muss, sondern auch noch damit, dass seine Umwelt geplündert wird. Ah, wir haben unsere Zukunft für schnöden Mammon verspielt.«
    »Wenn wir reden von Geld«, sagte Kito. »Mosquito, ich wollen dich fragen ...«
    Die Nacht brach herein, während wir uns Udon Thani näherten. Die Autobahn wurde immer schmaler, und als wir schließlich den Zubringer erreicht hatten, kam uns eine endlose Schlange von Lastwagen mit ebenso zweckmäßigen wie dekorativen Scheinwerfern entgegen, sodass ich das Gefühl hatte, mich gegen einen tosenden Strom vorarbeiten zu müssen. Jedes Mal, wenn ein Laster ‒ die Roboter am Steuer hatten offenbar keine Vorstellung von Sterblichkeit ‒ Anstalten machte, einen anderen zu überholen, wurden mir die Augen in den Höhlen versengt, und ich lenkte den SiL auf den holprigen Randstreifen, wo ich manchmal eine Palme streifte, Bambus entwurzelte oder eine Termitenkolonie auslöschte. Ich hatte Splitt in den Augen, und die Klimaanlage des Wagens trocknete mir den Hals aus. Mein Kopf schmerzte, was ich Mosquitos Gastfreundlichkeit zu verdanken hatte. Ich schaute mich nach einem Ort um, wo wir eine Pause einlegen konnten.
    Wir rasten durch die Elendsviertel am Stadtrand (hin und wieder zerschellten Flaschen an der schlichten Karosserie des SiL), bis wir das Zentrum erreichten, eine privilegierte Oase: eine Handvoll Luxuseigentumswohnungen und Kaufhäuser, die billigen Juwelen in schäbiger Einfassung glichen. Auf dem Marktplatz hatten, unter dem wachsamen Auge einer gefälschten Seiko-Uhr, ein paar Cafés und Bars geöffnet. Primavera und ich entschieden uns für ein Lokal namens Le Misanthrope . Kito blieb im Wagen; die lärmenden Kinder, die sich um die große Limousine drängten, würden sie allerdings nicht schlafen lassen.
    Das Café war menschenleer. Wir setzten uns in eine Nische, in der es angenehm dunkel war, und bestellten gebratenen Reis und Bier. Die thailändischen Popsongs ‒ Lieder über verlorene Liebe und gebrochene Herzen ‒ boten Primaveras Verzweiflung und vielleicht auch meinem Zynismus ein angemessenes Ambiente. Zwei Kellnerinnen hielten einander mit unbefangenem Lächeln an den Hüften und tanzten.
    »Ich muss dringend duschen«, sagte Primavera. »Und sobald wir dieses stinkende Land verlassen haben, kannst du mir ein paar neue Kleider besorgen.«
    »Wie geht es dir denn?«
    »Die Kopfschmerzen sind weg, aber ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Bauch getreten.« Sie betrachtete ihren Reis ohne jedes Interesse. »Hast du dir inzwischen überlegt, wo wir hin wollen?«
    »Nach Laos«, sagte ich. »Und dann nach China. Von dort aus kommen wir überallhin.

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