Tote Mädchen
zerstört worden waren und deren Liebreiz im geborgten Fleisch der Menschheit weiterlebte. Primavera war jetzt eine Puppe, keine dürre, gescheckte Blondine mehr, sondern eine Lilim mit den trügerischen kohlschwarzen Locken einer umherziehenden Zigeunerin. Ihre Augen glommen wie Viridianisotope, und ihr ganzer Körper war erfüllt von der kalten Herrlichkeit des Zaubers. Sie spuckte gegen die Wand; der Speichel blieb haften und verbrannte dann zischend.
»Siehst du!«, sagte Jo. »Bald wirst du richtig zaubern können.« Sie warf die leere Pralinenschachtel über die Schulter und stieg auf ihr Rad.
Gemeinsam fuhren wir durch das Halbdunkel ...
»Dort, wo wir hingehen «, hatte Jo gesagt, » leben alle glücklich bis an ihr Lebensende .« Aber die Geschichte der Lilim würde erst dann an ihr Ende gelangen, wenn alles, was pervers und widernatürlich war, triumphierte: das grausame Finale, nach dem sich die finsteren, romantischen Exzesse des europäischen Geistes jahrhundertelang gesehnt hatten. Blaubärte. Verfolgte Jungfrauen. Belles dames sans merci . Die Chimäre. Der Vampir. Die Sphinx. In dieser Geschichte war uns allen eine Rolle zugedacht. Worin wohl meine bestehen würde, in der großen weiten Welt, die bald uns gehören würde? Ich würde der Verräter sein, der sich auf die Seite der Unmenschlichkeit geschlagen hatte, auf die Seite der mechanischen Mädchen, von denen ich eine liebte. Wenn Primavera Titania Treue geschworen hatte, dann würde auch ich das tun. Ich würde meine Rolle spielen, bis der letzte Vorhang gefallen war. Solange Primavera der Krücke ihres Glaubens bedurfte.
Nachdem wir den ganzen restlichen Tag über Fahrrad gefahren waren, ohne die Sonne zu sehen oder frische Luft zu atmen, endete der Korridor vor einer Felswand; in den Stein eingelassen war eine runde Stahltür. Jo zog sie auf. »Von hier gelangt ihr zu einem Wartungstunnel, der parallel zur Kanalunterführung verläuft. Heutzutage wird er kaum noch benutzt. Wenn ihr jetzt losmarschiert und keine Pause einlegt, werdet ihr morgen früh in Calais an die Oberfläche kommen. Habt ihr alles dabei?«
Ich ging noch einmal unsere Checkliste durch: Landkarten und Stadtpläne, Adressen und Telefonnummern anderer flüchtiger Puppen in ganz Europa, elektronische Deutschmark, gefälschte Pässe und Ausweise und ein gefälschter Brief vom Auswärtigen Amt, in dem stand, wir seien die Kinder englischer Diplomaten, die einen Wanderurlaub unternähmen.
»Auf Wiedersehen, Jo«, sagte ich. »Und vielen Dank. Vielen Dank, dass du uns vor den Medicine Heads gerettet hast.«
»Gern geschehen.« Jo und Primavera umarmten einander. »Titania wollte, dass du das bekommst«, sagte Jo dann und zog eine Brosche in Form eines Pentagramms hervor, die mit herrlichen Smaragden besetzt war. »Cartier, wie wir auch.«
»Sie ist wunderschön«, sagte Primavera. »Bitte richte Titania meinen herzlichsten Dank aus.«
»Sei stolz«, sagte Jo. »Sei stolz darauf, eine Lilim zu sein.«
»Das bin ich«, sagte Primavera. »Und ich habe auch keine Angst mehr.«
»Und das«, sagte Jo, »ist für dich.« Sie reichte mir einen braunen Umschlag. »Von Peter«, fügte sie hinzu. »Jetzt geht aber! Es ist ein langer Weg ...«
Wir stiegen in den dunklen Tunnel hinab.
»Weidmannsheil, Primavera Bobinski«, rief Jo.
Ein stahlhelles Netz versiegelter Vivarien (die riesigen Kokons überlebten, wie uns erklärt wurde, nur in sauerstoffreicher Umgebung) bedeckte die Ebene, die einem abgewetzten Billardtuch glich. Wir ruhten uns im Schatten der Veranda aus, während einer der schwarzhäutigen, blauäugigen Lustknaben unseres Gastgebers mit einer Remy-Martin-Flasche um uns herumscharwenzelte.
»He, Iggy, das musst du dir anschauen!«
Mosquito hatte sich auf eine Sonnenbank gefläzt (alte Männer sollten sich nicht einfach irgendwo hinfläzen, vor allem dann nicht, wenn sie ihre Haare blau gefärbt und violetten Lidschatten aufgetragen hatten). Primavera hockte rittlings auf ihm und starrte in seinen weit offen stehenden Mund. Ganz vorsichtig berührte sie seine spitzen Eckzähne.
»Erst spritzen maßgeschneiderte Protozea«, sagte Kito. »Zehn Sekunden Malaria. Verwandeln Gehirn in Reisbrei.«
»Die habe ich mir einsetzen lassen, als sie meinen Körper neu gestalteten«, sagte Mosquito in einwandfreiem Englisch. »Gut zur Selbstverteidigung. Und bei kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen Freunden. Aber vor allem zur Selbstverteidigung. Nicht wahr, K?«
»Was sein
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