Tote Mädchen
Drogen und Autozerebroskop der Traumgestalter aus dem Fernen Osten. Aber natürlich auch teurer. Ich würde wirklich sparen müssen. Und dann würde ich Dad die neuste, beste Ausrüstung schicken. Um mich zu entschuldigen. Um ihm zu zeigen, dass ich ihn vermisste. Primavera und ich würden uns da draußen schon zurechtfinden.
»Jo?« Ich rannte den Korridor hinab; ich war allein ‒ allein in dieser Hölle aus Perspektiven. Dann bemerkte ich eine Reihe von Pfeilen, die mit Kreide an die Wand gemalt waren, zusammen mit der Botschaft Hier entlang, Dummchen . Ich folgte ihnen durch einen Korridor nach dem anderen, in steter Angst, nach der nächsten Abzweigung, Tür oder Treppe könnte es nicht mehr weitergehen. Korridore. Mein Leben schien von Korridoren bestimmt zu sein; und obwohl ich irgendwann den Weg zurück in die Zivilisation des Seven Stars fand, habe ich seither das Gefühl, dass ich für immer und ewig durch meine Schule laufen werde; dass mir die Myshkins immer auf den Fersen sein werden (»Was ist los, Zwakh? L’amour fou ?«), immer auf der Suche nach Wegweisern in Gängen, die sich mit der tödlichen Hartnäckigkeit eines Tumors gabeln und vervielfachen.
Zwei Monate vergingen. London wurde überschwemmt; Wasser sickerte ins Seven Stars . Ein paar Tage lang herrschte Panik; dann lief das Wasser wieder ab. »Magie«, sagte Primavera, »Puppenmagie.« Ich kann mich noch gut an ihre Konfirmation erinnern: die Kapelle, das große Pentagramm über dem Altar; Primavera in ihrem roten Seidenkleid, und Titania, die über die Wellenfunktion sprach, über den Omphalos und die selbstreferentielle Fuge, die Selbstsymmetrie und die Selbstidentität, die sich die Welt unterwerfen wird, die ganze Wirklichkeit von intrauterinem Bewusstsein und seinem mathematischen Boogie-Woogie kolonisiert. Zwei Monate. Ein langes Wochenende, das wir in einem Trancezustand architektonischer Illusionen verbrachten: Schachbrettmusterböden wurden zu Schachbrettmusterdecken, Decken wurden zu Böden, überall Irrgärten aus Mauern und Spiegeln, Sackgassen und Trompe-l’œil ‒ wir saßen in der Falle, liefen im Kreis herum und verschwendeten sinnlos Energie; die Zeit verstrich in einer Grotte voller Feengesichter, so entzückend verkommen, in einem Marathon von Maskenbällen, bis endlich ...
»Wer ist Lilith?«, fragte Jo.
»Adams erste Frau, die er wegen dieses langweiligen Fischweibs Eva verschmäht hat.«
»Und was ist mit Lilith geschehen?«
»Sie konnte keine Kinder bekommen, aber der Gott des Gifts verwandelte sie, verlieh ihr die Herrschaft über Evas Kinder ...«
»Und?«
»Machte sie hübsch. Verlieh ihr den Zauber ...«
»Und?«
»Magie! Sodass Evas Kinder zu ihren Kindern wurden.«
»Und wessen Kind bist du?«
»Liliths Kind.«
»Und was ist dein Schicksal?«
»Kinder zu zeugen, die das Ebenbild meiner Mutter sind, sodass die Söhne Adams den Töchtern Liliths weichen ...«
»Und dann?«
»Zu sterben und ... und die Welt mit mir in den Tod zu reißen!«
»Geschieht ihnen recht«, sagte Jo anstelle von Amen. Sie blickte in Primaveras verklärte Augen. »Und was ist das Geheimnis? Das größte Geheimnis von allen?« Primavera beugte sich vor und flüsterte es ihr ins Ohr.
»Ihr wisst, dass das eine Ehre ist, ja?«, sagte Jo. »Nicht jeder bekommt die Chance zu fliehen. Und die Seuche in die Welt hinauszutragen. Für den Run kommen nur Puppen infrage, die unsere Königin für« ‒ sie steckte sich eine weitere Praline in den Mund ‒ »hervorragende Erreger hält. Aber eine Sache dürft ihr nicht vergessen. Ihr dürft nicht töten. Die Bestimmung einer Puppe ist es, andere mit ihrer Software anzustecken. Männer als Vehikel zu verwenden, als Wirt, um einen Schoß zu finden, den sie selbst nicht besitzt.« Jo musterte mich, eine aufgemalte Augenbraue hochgezogen. Ihr Mund öffnete und schloss sich, wobei eine zerkaute Paste aus Blut und Kakao zum Vorschein kam. »Wie viele Jungen außer ihm hast du schon gehabt?«
»Iggy ist der Einzige«, sagte Primavera, sich keines Tadels bewusst.
»Je mehr Jungen du beißt«, sagte Jo, »desto mehr Kinder wirst du haben. Eine Puppe ist keine Puppe, wenn sie keine Kinder hat. Nach einer Weile wird es dir leichter fallen. Deine Metamorphose ist fast abgeschlossen.«
Da begriff ich, wie Primaveras rekombinante Linien eine direkte Abhängigkeit von Titania verrieten; nicht nur von Titania natürlich, sondern auch von all den anderen Großen Schwestern, die von Männern
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