Tote Männer Milch (German Edition)
Natura sieht und weiß, dass nur ein einziger Schlag tödlich ist. Wenn man die zentimeterlangen Krallen vor Augen hat, mit denen der Bär einem die Haut vom Leibe reißen wird. Wenn man in sein aufgerissenes Maul starrt, sein übelriechender Atem einem ins Gesicht schlägt. Spätestens dann ist der Punkt erreicht, an dem man seine riesigen gelben Reißzähne nur noch ohnmächtig bestaunt. Wo man vor lauter Entsetzen keine Angst mehr verspürt. Der Mensch tritt nicht den Rückzug an, sondern pinkelt in die Hose. Der Mensch schreit nicht, sondern flüstert. Spätestens jetzt ist der Mensch, dieses vom Bären nicht gesuchte, sondern gefundene Fressen, wahnsinnig genug zu glauben, mit dem Leben davon zu kommen. Isolde glaubte mit dem gusseisernen Willen einer teutonischen Serienkillerin daran. Schließlich hatte sie nur das eine, und mit dem wollte sie noch einiges anfangen. Ihre schönen Pläne wollte sich Isolde nicht von einer blöden Bärin zerstören lassen, nur weil dieses Muttertier glaubte, das Teutonenweib wollte sich an ihren Kindern zu schaffen machen.
Diese Reise nach Kanada war nicht nur ein angenehmer Zeitvertreib. Diese Reise war zukunftsweisend. Hier in diesem schönen einsamen Land, wollte sie sich mit ihrem Liebsten eine neue Existenz aufbauen. Gleich nächste Woche wollte sie weiter nach Kenora aufbrechen und die Farm besichtigen, die dort zum Verkauf angeboten wurde. Den Kaufpreis aushandeln, alle Formalitäten an Ort und Stelle klären. Hier in diesem Land wollte sie ohne Angst leben, zur Ruhe kommen, vielleicht auch etwas Sühne tun. Und dieses Leben gehörte ihr und ihren Liebsten, dem Kriminalbeamten Thomas Frisch. Diesem bodenständigen Mann, der sie regelmäßig im Krankenhaus besucht und in den sie sich verliebt hatte. Der genau wie sie, von einem Neuanfang träumte, fernab von allen Konventionen. Das alles erzählte sie der Bärin, die mittlerweile wieder auf allen Vieren stand, unschlüssig hin und her tänzelte und schnaufend ihren Kopf schüttelte, während Isolde beharrlich weiterflüsterte. Sie versuchte, der Bärin rhetorischen Honig ums Maul zu schmieren. Erzählte von der Bienenzucht, die sie hier in ihrer neuen Heimat anlegen wollte, – aber sie fügte auch mahnend hinzu, dass ihr Liebster Polizist ist und gut schießen kann. Dabei versuchte sie, möglichst unauffällig den Rückzug anzutreten. Behutsam setzte sie ein Bein hinter das andere und hoffte, dass sie nicht über eine Wurzel oder einen Ast stolperte. Dann war alles umsonst, dann würde sich die Bärin auf sie stürzen und sie zerfleischen. Isolde hatte den Tod vor Augen und plötzlich die kreischende Stimme der Müllerin im Ohr. Die Bärin wandte sich ab und preschte auf den Baum zu. Isolde war so voller Dankbarkeit erfüllt, dass sie der Bärin ein paar Worte des Dankes hinterher hauchte. Isolde rettete ihr Leben. Die Schreie des Todes im Ohr, ein glückliches Leben vor Augen.
Zwei Stunden später brach Isolde mit einem fünf Mann starken Suchtrupp auf. Isolde hatte keine Angst. Sie hatte den Männern erzählt, dass sie ihr Leben nur retten konnte, weil sie sich auf die Gabe des Bärenflüsterns verstand. Die Männer waren stark beeindruckt, vertrauten aber dennoch lieber ihren Waffen. Eine Grizzlybärin mit ihren Jungen war besonders gefährlich, aber trotzdem würde man nur im äußersten Notfall schießen. Aber der trat nicht ein. Isolde fand die Stelle, wo sie die Müllerin das letzte Mal gesehen hatte. Der Baum war leer…
17. Kapitel
Einige Monate später.
Isolde war mit dem Farmer handelseinig geworden und hatte das für kanadische Verhältnisse beschauliche Gehöft einschließlich 30 Rindern gekauft. Nun stand der Umzug nach Kanada bevor. Isolde und Herr Frisch begaben sich tatendurstig an die Arbeit. Beim Auseinanderbauen von Isoldes Bett, stieß Frisch auf eine zerfledderte Kittelschürze und reichte sie unbeachtet an Isolde weiter. Sie erkannte die Musterung der Schürze, fand den Brief, der noch unbeschadet in der Seitentasche steckte.
Isolde nahm den kleinen Hund auf ihren Arm.
„Ich danke dir“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Jetzt hast du dir einen Namen verdient – du bist ein Held!“
„Hast du was gesagt?“, wollte Thomas wissen.
„ Hero - wir werden den Hund Hero nennen!“
„Hero“, wiederholte Frisch lachend, „meinst du, dass er sich diesen Namen wirklich verdient hat?“
„Ja“, sagte Isolde, „den hat er sich verdient.“
Isolde nahm den Brief an sich und
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