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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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die Orientierung verloren und
wußte nicht, auf welcher Seite der Insel ich mich befand und wie weit ich vom
Gipfel entfernt war.
    Schließlich führte der Pfad auf einen
Felsvorsprung. Ich blieb schwer atmend stehen. Durch die Nebelfetzen konnte ich
das östliche Ufer der Bucht sehen — auf den Hügeln blinkten hier und dort
schwach ein paar Lichter, andere verliefen in Ketten am Wasser entlang. Ich
schaute auf die Uhr und stellte erstaunt fest, daß ich erst gut zehn Minuten
unterwegs war. Ich hatte auch das Zeitgefühl verloren.
    Ein paar Meter weiter teilte sich der
Weg. Ich ging nach rechts, mußte aber bald feststellen, daß der Weg nach unten
führte. Ich kehrte um und folgte dem anderen Pfad. Das Terrain wurde immer
zerklüfteter und die Vegetation spärlicher. Als ich einen Felsrand erreichte,
hob ich meine Lampe und stellte fest, daß ich bei den »Riesenstufen« angelangt
war. Sie waren einen Meter oder höher und übereinander angeordnet. Oberhalb der
obersten Stufe leuchtete ein Licht; ich hatte die Stelle, wo Taylor so gerne
lag und von der Ruhe des Todes träumte, fast erreicht.
    Mein Herz schlug schneller. Ich stand
still und lauschte. Doch nur das Rauschen des Windes war zu hören.
    Ich begann die Stufen zu erklimmen.
Während ich mich unter großer Anstrengung nach oben zog, dachte ich an das alte
Kinderspiel »Mutter, darf ich?«.
    Mutter, darf ich einen Zwergenschritt
machen? Einen Riesenschritt? Einen Elefantenschritt ?
    Und noch eine Riesenstufe. Und noch
eine. Das Licht leuchtete nun heller. Und eine letzte Stufe, die noch höher war
als die anderen. Ich mußte Atem schöpfen, bevor ich sie erklomm.
    Ich sah nach oben. Ein Ring von
Eukalyptusbäumen wurde von dem Strahl der Laterne trübe erhellt. Ihre Äste und
die zerfetzten Locken der Rinde hoben sich von den hohen Nebelschwaden ab.
Sonst bewegte sich dort oben nichts. Niemand sprach. Ob wohl noch jemand
atmete?
    Eine beklemmende Angst vor dem, was ich
entdecken könnte, stieg in mir hoch. Dann hörte ich ein Geräusch... ein
Schluchzen. Davey.
    Eine beruhigende Stimme sagte: »Pst.«
Dann begann die Stimme, D. A.s Stimme, in einer fremden Sprache zu singen. Es
klang wie ein indianisches Schlaflied.
    Langsam zog ich mich über die letzte
Stufe hoch. Der darüberliegende Boden stieg weiter an; ein umgestürzter Baum
versperrte mir die Sicht. Ich duckte mich, kroch auf dem Bauch weiter und
spähte über den Baumstumpf.
    Die Felsplatte lag mitten auf der
Lichtung. Die Laterne stand am anderen Ende. Taylor lag auf dem Rücken, im
Drillichanzug, ein Bein hatte er angezogen, den linken Arm über die Augen
gelegt. Den rechten Arm — der mir am nächsten lag — hatte er um Davey
geschlungen. Der kleine Junge trug einen Schlafanzug. Sein Kopf lag auf der
Schulter seines Vaters. Er hatte aufgehört zu weinen, aber seine dunklen Augen
huschten über die Lichtung. Ich sah keine Waffe.
    Vorsichtig richtete ich mich hinter dem
Baumstumpf auf. Davey bemerkte mich sofort, er erkannte mich.
    Ich schüttelte den Kopf und bedeutete
ihm, sich schlafend zu stellen. Folgsam schloß er die Augen.
    Taylors Gesang verklang nach einer
Minute, um dann wieder einzusetzen. Verklang wieder. Er seufzte tief, und dann
hob und senkte sich sein Brustkorb gleichmäßig. Nach einer Weile öffnete sich
sein Mund, und er begann zu schnarchen.
    Davey öffnete die Augen und schaute
mich an. Ich schüttelte den Kopf und wartete noch ein paar Minuten, bevor ich
ihm bedeutete, zu mir zu kommen.
    Er setzte sich langsam auf und ließ
seinen Vater nicht aus den Augen. Dann löste er sich aus seinem Arm. Er stand
auf und ging leise über die Lichtung. Ich zog ihn zu mir auf die andere Seite
des Baumstumpfes.
    Ich legte meine Lippen nah an sein Ohr
und flüsterte: »Alles wird gut. Mia ist mit Libby unten am Strand. Kannst du
allein dorthin zurückgehen?«
    »...Wenn ich eine Lampe habe, schon.«
    »Dann komm’.«
    Wir krochen wieder zur ersten
Riesenstufe zurück, und ich half ihm nach unten und gab ihm meine Taschenlampe.
Er spähte in die Dunkelheit, die uns umgab. Aber als er mich wieder ansah, war
sein Blick fest und entschlossen. Ich erkannte in seinen Augen Stärke und
Stolz, Eigenschaften, die sein Vater vor langer Zeit besessen hatte.
    »Sei vorsichtig«, flüsterte ich. »Sag’
Libby, daß sie dich und Mia heimbringen soll. Dann kann sie deinen Papi und
mich abholen kommen.«
    Einen Moment lang schaute er
sehnsüchtig nach oben zu dem trüben Licht über der Felsplatte, wo

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