Totem des Boesen
Gegensatz zu Isaak Germain weideten sie sich ungeniert an den Leiden des menschlichen Wesens, dessen Blut den Schutzzauber des Kults erneuern sollte.
Gesang und Tanz der Voodoosi wurde immer aggressiver, immer fordernder. Der Grand Commandeur kannte diesen Effekt von vielen anderen Zusammenkünften und betrachtete sich selbst nur als Katalysator, an dem sich die Emotionen ihrer geheimen Allianz entzündeten. Nicht er war das Monster, das bereit war, ein junges Menschenleben zu zerstören ... Die Summe aller Begierden, die in den Augen der hier Versammelten loderte, war monströs!
Sie alle kannten Aimee seit ihrer Geburt - und sie alle wußten, daß sie selbst das nächste Opfer der nächsten Zeremonie sein konnten ...
... doch damit lebten sie.
Weil ihnen nichts anderes übrig blieb.
Weil sie vor vielen Jahren unwissentlich erweckt hatten, was seither ihre Namen, ihre Gesichter, den Abdruck ihrer Seelen kannte und sie dadurch überall finden konnte.
Nur die Gemeinschaft bot Schutz.
Die Talismane.
Die Rituale.
Die Opfer .
Isaak Germain kannte das Aussehen dessen, was sie fürchteten, so wenig wie seine Jünger. Dennoch zweifelte er keine Sekunde an seiner Existenz.
Generationen zuvor waren seine Vorfahren von gewinnsüchtigen Sklavenhändlern aus Schwarzafrika hierher verschleppt worden. Billige, rechtlose, vogelfreie Arbeitskräfte. Und das einzige, was ihnen nicht genommen worden war, weil es ihnen nicht genommen werden konnte, das einzige, was sie aus ihrer nie vergessenen Heimat mit in die Fremde gebracht hatten, war ihr Glaube gewesen.
Ihre unersättlichen Götter.
Legba, Kokou, Egungun, Sango ...
Isaak Germains Blick schweifte vom Gesicht des Opfers hin zu der noch leeren Kalebasse, die bald mit Aimees Blut gefüllt sein würde. Blut, das durch die Kehle eines jeden Voodoosi rinnen sollte.
Ein einziger Tropfen genügte zur Erneuerung des Schutzes.
Und wie stets in den vergangenen Monaten und Jahren würde der Leib des Opfers am Ende der Feier verschwunden sein. Und dort, wo man ihn gefesselt und zu duldsamem Schweigen verurteilt hatte, würde nur noch ein kleiner Haufen amorphen Staubs liegen.
Asche?
Selbst der Grand Commandeur wußte es bis heute nicht.
Vielleicht gab es unter seiner Gemeinde den einen oder anderen Zweifler - Isaak Germain selbst jedoch war felsenfest überzeugt, daß die Magie, derer sie Zeugen wurden, echt war. Daß etwas von jenseits der normalen Wahrnehmungen zu ihnen kam, seine Sinne prüfend über jeden einzelnen der Anwesenden schweifen ließ und dann entschied, ob es das Opfer ... oder die ganze Gemeinde mit sich reißen sollte ins Reich der Schatten.
In die Welt hinter der Welt ...
Wieder krähte ein Hahn, und sein Blut sprühte über den Chor der Kinder. Kinder, die ihre Unschuld längst verloren hatten - nicht erst in dieser Stunde.
Wie Aimee.
Isaak Germains Augen fanden zu ihr zurück. Die Wachsmuster auf ihrem gertenschlanken Körper bewirkten mehr als nur spirituelle Stimulation. Er bekam eine Erektion, die allerdings unter der weiten, weißen Kutte verborgen blieb.
Wie seine eigenen Narben, die sein Vater - auch einmal Hohepriester ihres Bundes - ihm bereits in frühester Kindheit zugefügt hatte. Wunden, die sich bis in Germains Seele gegraben hatten und nie verheilen würden.
Es mußte so sein.
Ohne diese wertvolle Erfahrung hätte Isaak Germain die Qualen, die er anderen zufügte, nicht so virtuos steuern können, wie er es in dieser versteckten Kirche seit so vielen Jahren tat.
Um der Bedrohung aus dem Jenseits zu entrinnen, hätte es nicht genügt, einfach den Ort ihres Wirkens zu wechseln. Für das Unaussprechliche schien es Raum und Entfernung gar nicht zu geben - vielleicht nicht einmal den Faktor Zeit.
ES kannte sie.
ES hatte sich jedes einzelne Muster ihrer Gedanken gemerkt.
Und ES verfolgte die Frevler von einst bis in jede folgende Genera-tion hinein.
Wir sind genetisch verflucht, dachte Isaak Germain vage. Deshalb wird Aimee ES besänftigen. Aimee ist ein so wunderbares Opfer ...
Zwischen den durch die Fesselung gespreizten Beinen lag der Dolch auf dem schwarzpolierten Stein.
Die Gesänge der Gemeinde peitschten durch das Gewölbe. Peitschten auch Isaak Germain nach vorn. Drängten ihn zu tun, was getan werden mußte.
Ein Leben für viele. Das war der zur Normalität verkommene Preis, den jeder gelehrt worden war zu akzeptieren.
Die Augen des Grand Commandeurs glommen finster, als er den Oberkörper nach vorn neigte und den linken,
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