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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Bild des etwa achtjährigen Luke vor Augen, hoch in der Luft, wie er von einem Sandhügel sprang. Vielleicht gab es ja ein Foto davon. Sie sah ihn genau vor sich: die abgeschnittene, ausgefranste Jeans, das rote T-Shirt , den halb freudig, halb ängstlich aufgerissenen Mund.
    Trotz des schönen Wetters standen kaum Autos hier. Es war Donnerstagvormittag, die Kinder waren noch in der Schule, und so konnten nur ein paar rüstige Rentner mit ihren Hunden die Sonne genießen. Plötzlich fiel Julie etwas ein.
    «Ich muss doch zur Arbeit. Ins Altenheim. Mary wartet sicher schon auf mich.»
    «Sal hat sie gleich heute früh angerufen. Mary hat schon eine Vertretung für Sie gefunden. Sie schickt Ihnen ganz herzliche Grüße und ihr Beileid.»
    Julie blieb abrupt stehen und verursachte damit einen kleinen Erdrutsch. Feiner, trockener Sand rieselte ihr zwischen den Füßen hindurch. Mary Lee, die Leiterin des Altenheims, war eine pragmatische, unsentimentale Frau. Herzliche Grüße, das passte gar nicht zu ihr.
    «Haben Sie meinen Eltern auch Bescheid gesagt?»
    «Ja. Noch gestern Nacht, gleich nachdem ich hier eingetroffen bin. Sie wollten vorbeikommen. Aber Sie meinten, Sie wollten lieber ein bisschen allein sein.»
    «Ehrlich?» Julie versuchte sich zu erinnern, aber die vergangene Nacht war hinter einem Nebel aus Gefühlen verschwunden. So ähnlich hatte sie sich damals gefühlt, als sie Bevs Junggesellinnenabschied gefeiert hatten und sie mit einer Alkoholvergiftung in der Notaufnahme gelandet war. Dasselbe unwirkliche Albtraumgefühl, zerhackte Bilder, aufblitzende Schatten.
    Sie gingen weiter, erreichten den höchsten Punkt der Dünen und schlitterten hangabwärts Richtung Strand. Julie hatte ihre Turnschuhe ausgezogen und sie sich an den Schnürsenkeln zusammengebunden über die Schulter gehängt. Vera trug Sandalen, die sie anbehielt. Noch im Wagen hatte sie einen riesigen weißen Sonnenhut und eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt. «Die Sonne bekommt mirnicht so gut», hatte sie erklärt. Eigentlich sah sie ein bisschen so aus, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Wäre Julie ihr bei einem ihrer Besuche bei Luke im St.   George’s begegnet, hätte sie sie für eine Patientin gehalten. Keine Frage.
    Sie befanden sich am südlichen Ende eines langen Strandstücks, das sich über gut sechs Kilometer erstreckte. Richtung Norden lief der Sand in einer schmalen Landzunge aus, wo der Leuchtturm stand, der im Hitzedunst kaum zu erkennen war.
    «Das Leben mit Luke war sicher nicht leicht», sagte Vera.
    Julie blieb wieder stehen. Sie spürte den salzigen Wind, den es nur direkt am Meer gab. In der Ferne erkannte sie drei winzige Gestalten: zwei alte Leutchen und ein Hund, die mit einem Ball spielten. Sie hoben sich vor dem blendend hellen Licht nur als Umrisse ab.
    «Sie glauben, ich habe ihn getötet», sagte sie.
    «Haben Sie das denn?» Der Gesichtsausdruck der Polizistin war hinter Hut und Sonnenbrille verborgen.
    «Nein.» Plötzlich versiegten die Worte, all die Worte, die aus Julie herausgesprudelt waren, seit sie ihren toten Sohn gefunden hatte. Sie konnte der Frau nicht erklären, dass sie niemals dazu fähig wäre, Luke auch nur irgendwie zu verletzen, nachdem sie die letzten sechzehn Jahre damit zugebracht hatte, ihn vor aller Welt zu beschützen. Sie öffnete den Mund und hatte das Gefühl, am trockenen Sand zu ersticken. «Nein», sagte sie noch einmal.
    «Natürlich nicht», sagte Vera. «Wenn ich auch nur den kleinsten Verdacht hätte, dass Sie es waren, säßen wir jetzt zusammen auf dem Revier, das Aufnahmegerät liefe, und Sie hätten einen Anwalt bei sich. Sonst würde ja nichts von dem, was Sie mir sagen, vor Gericht als Beweis zugelassen.Aber fragen musste ich natürlich. Sie könnten ihn nämlich durchaus umgebracht haben. Als Sie nach Hause gekommen sind, war er noch gar nicht lange tot. Und physisch wären Sie sicher dazu in der Lage gewesen. Außerdem ist der Täter in den meisten Fällen ein Familienmitglied.» Sie schwieg kurz und wiederholte dann noch einmal: «Fragen musste ich.»
    «Dann glauben Sie mir also?»
    «Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Sie könnten ihn durchaus getötet haben, weil er Sie beispielsweise bis zum Äußersten gereizt hat und Sie nicht mehr mit ihm klargekommen sind. Aber das hätten Sie uns erzählt. Außerdem waren Sie der festen Überzeugung, er hätte sich das Leben genommen. Als ich kam, dachten Sie, er hätte Selbstmord begangen, und machten sich

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