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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Ihre Nachbarn ja was gesehen.»
    Die beiden Jungs spielten inzwischen mit einem Fußball und warfen ihn so fest in den nassen Sand, dass ihre Klamotten mit Matschspritzern gesprenkelt waren. Die Mütter kriegen einen Anfall, dachte Julie.
    «Fahren wir nach Hause», sagte Vera. «Einverstanden?»
    Fast hätte Julie geantwortet, dass sie nie mehr zurück nach Hause wollte.
    «Laura ist inzwischen sicher wach. Sie braucht Sie.» Damitdrehte Vera sich um und stapfte auf die Dünen zu, und Julie blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    Als sie in ihre Straße einbogen, hatte sie das Gefühl, als sähe sie alles dort zum ersten Mal. In Gedanken war sie immer noch am Strand, sie hatte das Kreischen der Möwen im Ohr und die Weite vor Augen. Es fiel ihr schwer, diese Straße als ihr Zuhause zu betrachten. Eine Sackgasse, dahinter urbar gemachtes Ackerland. Früher wurde dort die Schlacke aus dem Bergwerk abgeladen, inzwischen erstreckten sich Felder bis zur Küste. Auf der einen Straßenseite standen kleinere Bungalows speziell für ältere Leute, die alle mit einer Rampe und einem Geländer versehen waren, auf der anderen Reihenhäuser, die früher einmal Sozialwohnungen gewesen, inzwischen aber alle in Privatbesitz waren. Wäre das auch passiert, fragte sich Julie, wenn wir woanders gewohnt hätten?
    Vera bat sie, ihr ganz genau zu zeigen, wo sie das Auto in der Nacht zuvor gesehen hatte, und Julie gab sich alle Mühe, konnte sich aber nicht recht konzentrieren. Stattdessen überlegte sie ununterbrochen, was sie hätte tun können, um ihren Sohn zu retten. Sie hätte umziehen, nicht mit den Mädels ausgehen oder Luke doch in eine Sonderschule geben sollen, ein Internat vielleicht, wo man sich richtig um ihn gekümmert hätte.
    Vera brachte den Wagen langsam zum Stehen, direkt vor dem Haus. Vor der Tür stand immer noch der Polizist, doch Julie wusste, dass Luke fort war.

KAPITEL SECHS
    Als Vera an diesem Abend nach Hause kam, kreiste ein Bussard über ihrem Haus. Die vorne abgerundeten Flügel standen leicht schräg, um sich der Thermik anzupassen, und der Vogel schimmerte wie poliertes Holz in den letzten Strahlen der Abendsonne, wie ein Abbild auf einem Totempfahl. Man sah erst seit kurzem überhaupt wieder Bussarde in diesem Teil Northumberlands. Im Westen waren sie recht verbreitet, doch hier hatten die Wildhüter sie alle abgeknallt, ihre Gelege zertreten und vergiftete Köder ausgelegt. Vera wusste, dass es auf einem Landsitz in der Nähe noch so einen mordlüsternen Wildhüter gab. Soll er’s versuchen, dachte sie. Soll er es nur versuchen.
    Drinnen im Haus war es stickig und unordentlich. Seit vierundzwanzig Stunden war sie nicht mehr hier gewesen. Sie machte die Fenster auf, sammelte getragene Kleidungsstücke vom Schlafzimmerboden auf und stopfte sie in die Waschmaschine im Schuppen. Dann überlegte sie, ob sie wohl noch etwas Essbares eingefroren hatte. Seit dem Tod ihres Vaters Hector lebte Vera allein, und inzwischen war sie sich sicher, dass das auch so bleiben würde. Es hatte wenig Sinn, sich zu fragen, wie sie sich wohl in einer Beziehung geschlagen hätte. Eine Zeit lang hatte es da jemanden gegeben, der ihr nachts den Schlaf raubte und sie zum Träumen brachte, aber daraus war nichts geworden. Und jetzt war es längst zu spät, sich noch zu grämen. Was sie natürlich nicht davon abhielt, es trotzdem zu tun, wenn sie spätnachts mit einem Whisky dasaß.
    Sie holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, entfernte den Kronkorken und trank direkt aus der Flasche. Zu trinken gab es immer genug in ihrem alten Stationsvorsteherhäuschen, selbst wenn sie nicht dazu gekommen war,Lebensmittel einzukaufen. Vera trank zu viel oder zumindest zu regelmäßig. Sie sagte sich, dass sie nur emotional davon abhängig sei, nicht körperlich süchtig. Mit dem Bier in der Hand ging sie zurück in den Schuppen und wühlte in der Gefriertruhe. Für sie hätte es auch ein kleinerer Gefrierschrank getan, doch Hector hatte dort die Vogel- und Tierkadaver aufbewahrt, die er ausstopfen wollte. Ganz unten fand sie noch eine Plastikdose mit Wildragout. Das Fleisch hatte ihr der Wildhüter geschenkt, der die Raubvögel abschoss, aber Vera hatte keine Skrupel gehabt, das Geschenk anzunehmen. Hier in den Bergen war es wichtig, zumindest so zu tun, als ob man seine Nachbarn mochte. Schließlich war es gut möglich, dass man mal an einem verschneiten Tag aus dem Graben gezogen werden musste. Sie hatte einen ganzen verregneten

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