Totenbuch
Vermutlich sind es persönliche Hintergründe«, sagt Benton.
»Ob er sich von Nachrichtenmeldungen inspirieren
lässt?«, erkundigt sich der General. »Folter? Die Todeskommandos im Irak, die
Menschen die Zähne ausreißen und ihnen die Augen ausstechen?«
»Ich kann nur betonen, dass die Tat einzig und
allein Rückschlüsse auf die Psyche des Mörders zulässt. Mit anderen Worten:
Ich glaube nicht, dass er auf ein aktuelles Ereignis oder sonst etwas anspielen
will, das für uns nachvollziehbar ist. Die Wunden der Toten vermitteln uns
einen Einblick in sein Innenleben«, sagt Benton.
»Alles nur Spekulation«, protestiert Capitano Poma.
»Nein, psychologische Erkenntnisse auf der Basis jahrelanger Arbeit mit
Gewaltverbrechern«, widerspricht Benton. »Aber dennoch nur Ihre Intuition.«
»Seine Intuition ignoriert man nur auf eigenes Risiko«,
gibt Benton zurück.
»Könnten wir bitte die Autopsiefotos sehen, die das
Opfer während der äußeren Untersuchung von vorn zeigen?«, unterbricht
Scarpetta die Streithähne. »Eine Nahaufnahme vom Hals?« Sie wirft einen Blick
auf die Liste. »Das wäre Nummer zwanzig.«
Ein dreidimensionales Bild erscheint auf der
Leinwand: Drews Leiche auf einem Autopsietisch aus Edelstahl, Haut und Haare
noch feucht vom Waschen.
»Wenn Sie hierher schauen« - Scarpetta deutet mit
dem Pointer auf den Hals -, »erkennen Sie ein horizontal verlaufendes Würgemal.«
Der rote Punkt wandert weiter die vordere Seite des Halses entlang. Doch ehe
Scarpetta fortfahren kann, fällt ihr der Leiter des römischen
Fremdenverkehrsamts ins Wort.
»Er hat ihr danach die Augen entfernt. Nach dem Tod«, sagt er. »Und nicht, als sie noch lebte. Das ist
wichtig.«
»Ja«, erwidert Scarpetta. »Berichten zufolge sind
Blutergüsse an den Knöcheln und die Würgemale die einzigen Verletzungen, die
ihr zu Lebzeiten zugefügt wurden. Die Aufnahme von ihrem obduzierten Hals
bitte. Nummer achtunddreißig.«
Kurz darauf ist das verlangte Bild zu sehen. Auf
einem Schneidebrett erkennt man den Kehlkopf, Bindegewebe mit Spuren von
Blutungen und die Zunge.
»Die Blutergüsse im Bindegewebe und der
darunterliegenden Muskulatur sowie das gebrochene Zungenbein weisen deutlich
darauf hin, dass sie erdrosselt wurde, während sie noch am Leben war.«
»Was ist mit Petechien?«
»Petechien, die punktförmigen Blutungen auf der
Netzhaut, konnten wir nicht feststellen«, entgegnet Scarpetta. »Ihre Augen
fehlten schließlich.«
»Was mag er damit gemacht haben? Ist Ihnen so etwas
jemals untergekommen?«
»Ich habe Opfer mit ausgestochenen Augen gesehen,
aber noch nie einen Täter erlebt, der die Augenhöhlen seines Opfers mit Sand
füllt und ihm dann die Lider mit Zyanoacrylat verschließt.«
»Sekundenkleber«, ergänzt Capitano Poma.
»Mich interessiert vor allem der Sand«, fährt
Scarpetta fort. »Er stammt offenbar nicht aus dieser Gegend. Außerdem wurden
bei einer Untersuchung unter dem Rasterelektronenmikroskop mit Hilfe der
Röntgen-Mikron-Analyse Spuren von Schießpulver gefunden: Blei, Antimon und
Barium.«
»Von einem der hiesigen Strände kann der Sand also
nicht sein«, folgert Capitano Poma. »Außer, es würde dort herumgeballert, ohne
dass wir es wüssten.«
Gelächter.
»Sand aus Ostia würde Basalt enthalten«, fährt
Scarpetta fort. »Außerdem andere Komponenten, die auf vulkanische Aktivitäten
hinweisen. Ich glaube, Sie haben alle eine Kopie der Spektralanalyse des
Sandes an der Leiche sowie einer Probe von einem Strand in Ostia vorliegen.«
Im Raum ist Papiergeraschel zu hören. Kleine
Taschenlampen werden eingeschaltet.
»Beide Proben wurden mit Hilfe von
Raman-Spektroskopie, und zwar mit einem 0,8 -Milliwatt-Infrarotlaser, untersucht. Wie Sie sehen
können, weisen der Sand von den Stränden hier in Ostia und der in Drew Martins
Augenhöhlen aufgefundene völlig unterschiedliche Spektralmerkmale auf. Im
Rasterelektronenmikroskop sehen wir die Morphologie des Sandes, während die
elektronische Abbildung die Schießpulverspuren zeigt, von denen hier die Rede
ist.«
»Ostias Strände sind bei Touristen sehr beliebt«,
merkt Capitano Poma an. »Allerdings nicht so sehr um diese Jahreszeit. Einheimische
und Touristen warten meistens, bis es wärmer ist. Bis Ende Mai oder sogar bis
Juni. Man trifft dort vor allem Römer, weil es mit dem Auto nur dreißig Minuten
sind. Für mich ist das nichts«, fügt er hinzu, als würde sich jemand für seine
persönliche Meinung über die Strände von
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