TotenEngel
Stimme klang wie aus weiter Ferne, und es schien ihm große Mühe zu bereiten, die Worte in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. » Ein Fremder bin ich auf dieser Welt und unter denen, die Menschen sind. « Er rieb sich die Schläfen mit den Handballen. »Maurits war genauso, aber dann … dann hat er mich ja im Stich gelassen … Sein Leben – mein Leben fand irgendwie im Dunkeln statt, in einer Dunkelheit, aus der ich nicht herausfand. Ich beneidete die anderen Jungen, die so laut waren, die alles taten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie verhielten sich wie … wie Neonfische, die leuchtendes Plankton um sich verstreuen und unter Wasser bunte Lichträder schlagen, die nach Belieben Form und Aussehen verändern. Und manchmal dachte ich, dass ich gerne wäre wie sie, so auffällig und sorglos. Bis mir klar wurde, dass es auch bei ihnen ums Überleben ging, um Nahrung. Bei den Jungen. Bei den Fischen. Sie taten all das ja nur, um Beute anzuziehen. Und dann traf ich Klaas van der Meer.« Jacobszoon hielt für einen Moment inne, und es schien ihm schwerzufallen, nicht wieder zu der Türhinüberzuschauen. »Mit ihm konnte ich reden. Er hat mir zugehört. Ich habe ihm von Maurits erzählt, von mir, von meinem Vater. Er hatte Verständnis.«
Nur noch ein paar Schritte , dachte Van Leeuwen, nur drei oder vier Schritte. Mit dem Daumen entsicherte er die Sig Sauer. Er hoffte, nicht schießen zu müssen, aber falls doch, hatte er nur einen Schuss, nur die Kugel, die im Lauf steckte. Mit der gesunden Hand konnte er die Kugel abfeuern, aber es war unmöglich, den Schlitten zurückzuziehen, um eine neue Patrone aus dem Magazin in den Lauf zu befördern.
»Klaas erzählte mir von anderen Menschen, die lebendig begraben wären, die an ihrem Leben erstickten«, fuhr Jacobszoon fort. »Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschten als den Tod. Sie kamen zu ihm, weil sie sterben wollten. Er zeigte sie mir. Er hatte damals noch keine Klinik. Hinterher sagte er immer: Wir haben nur einen Wunsch erfüllt. «
»Mit einer Plastiktüte.«
»Er sagte, es macht sie glücklich. Sie sterben glücklich.«
»Hat er Sie gedrängt?«, fragte Van Leeuwen. »Hat er gesagt, es wären zu viele für ihn allein?«
Jacobszoon lächelte, als stünde er Modell für ein Devotionalienbild von Jesus Christus. »Ich brauchte ihnen bloß zuzuhören. Oder ihre Briefe zu lesen. Ihre Gesichter zu sehen.«
»Dann ist das, was Sie mir in Ihrem Studio vorgeführt haben, wohl eine Wunschsendung gewesen«, sagte Van Leeuwen ruppig. »Und immer am sechsundzwanzigsten September war Bescherung – am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober, jedes Jahr. Van der Meer schenkte Ihnen Menschen, denen Sie den Tod schenkten, war es so? Menschen, von denen jeder einzelne Sara Scheffers Sohn hätte sein können. Menschen, für die es besser gewesen wäre, sie hätten nie das Licht der Welt erblickt. Die sterben mussten, um wirklich leben zu können, von Ihrer Hand. Und als Euthanasie legalisiert wurde, eröffnete Van der Meer seine Sterbeklinik, und Sie versuchten noch einmal, ihnen anders zu helfen, erst mit der Kolumne samariter.nl , dann als Fernsehmoderator.«
»Wie das klingt …« Ein Ton von Bitterkeit schlich sich in Jacobszoons Stimme. »Sie wissen ja gar nicht, was für eine Qual es jedes Mal für mich war, im Studio zu sitzen, im Licht der Scheinwerfer, vor dem Auge der Kamera. Es war der Preis, den ich bezahlen musste, wenn ich unter den Menschen die entdecken wollte, die mich mehr als alle anderen brauchten, um Erlösung zu finden.«
»Wie Jesus?«, fragte Van Leeuwen und dachte, noch ein Schritt . »Wie Gottes Sohn, der unter Qualen sterben musste, damit wir alle erlöst werden konnten?«
»Ja«, antwortete Jacobszoon leise. »Ja, warum nicht so ähnlich? Es waren doch Nächte auf dem Ölberg – all die Stimmen der Menschen, die in der Sendung anriefen und von ihrer Einsamkeit, ihren Verletzungen oder Qualen erzählten, verwandelten sich in einen einzigen Sorgenstrom, den Schmerzen und Qualen der ganzen Welt, dem kein Damm mehr standhalten konnte.« Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. »Es kommt mir so vor, als hätte ich mein ganzes Leben mit Zuhören verbracht. Mir sein Herz auszuschütten scheint niemandem schwerzufallen. Mein Leben ist ein Flussbett, das von Stimmen gegraben wurde. Manchmal hatte ich Angst, darin zu ertrinken, in einem See aus Mitleid. Aber am schlimmsten war, dass ich merkte, wie wenigen ich mit Worten
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