TotenEngel
Notizblock flatterte auf die Fußmatte. Ein Hupton erklang, ein zweiter, länger. Van Leeuwen riss die Arme hoch in das blendende Licht, um den Stoß abzufangen, doch der Golfglitt seitwärts, drehte sich noch einmal, und noch immer kam der Stoß nicht. Er kam, als Van Leeuwen nicht mehr damit rechnete, das dumpfe Krachen, das Knirschen und Julikas Schrei. Dann die Stille wie ein zweiter Schlag, ohrenbetäubend. Dann ein Zischen, das Tröpfeln von Wasser oder Benzin. Regen, lauter als alles andere. Dann Julikas benommene Stimme: »Mist, verdammter! Bruno? Ist dir was passiert?«
»Nein.« Van Leeuwen tastete nach dem Sicherheitsgurt und löste die Schnalle. »Und dir?«
»Auch nicht, alles okay.«
Durch die schlierige Scheibe konnte er den Peugeot sehen, der Fahrer saß noch hinter dem Lenkrad, aber er bewegte sich und schaute zu ihnen herüber, während jetzt überall um sie herum die Warnblinkanlagen zu flackern begannen. Van Leeuwen versuchte, die Tür zu öffnen, er drückte mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Metall knirschte und gab nach. Der Regen drang ins Wageninnere.
Der Commissaris stieg aus. Seine Beine funktionierten, und die unverletzte linke Hand war auch jetzt noch unverletzt. Er benutzte sie, um seinen Ausweis aus der Tasche zu holen und hochzuhalten, während er im Schein Dutzender Warnblinkanlagen durch den Regen stapfte, bis er einen frei stehenden Wagen fand. Er klopfte gegen die Seitenscheibe, hielt dem Fahrer den Ausweis vors Gesicht und sagte: »Ich brauche Ihren Wagen. Fahren Sie mich nach Borneo Eiland.«
40
Die Beamten des Einsatzkommandos hatten die Zufahrt zur Scheeps-Timmermanstraat abgeriegelt, und jetzt warteten sie in Mannschaftsbussen im Regen und sahen zum Eingang des letzten Hauses am Kai von Borneo Eiland hinüber, wo das Wasser begann. Die schmalen Straßen der Halbinsel im alten Hafen von Amsterdam lagen menschenleer zwischen den niedrigen, vielfarbigverkleideten Gebäuden. Es war eine teure, begehrte Wohngegend – eine moderne Festungsmauer aus niedrigen, rechteckigen Häusern, deren Fenster auf das IJ hinausgingen. Die breiten Wedel der Palmen auf den Dachterrassen troffen vor Nässe. Verschachtelte Fassaden in Grau, Schilfgrün und Nussbraun zeigten, was man alles mit Holz, Glas, Beton und Eisen anstellen konnte, aber der Commissaris dachte in diesem Moment ausschließlich daran, was vielleicht gerade im Inneren des Hauses von Kornelis Jacobszoon mit einer Zellophantüte angestellt wurde.
Alle Vorhänge und Jalousien hinter den Panoramafenstern waren geschlossen. Van Leeuwen stand vor der eisenbeschlagenen Tür und drückte auf den Klingelknopf mit dem geschwungenen Namenszug Jacobszoon darunter. Während er wartete, blickte er in das elektronische Auge über der Klingel, und als niemand öffnete, drückte er den Knopf immer wieder, bis eine durch die Gegensprechanlage verzerrte Stimme fragte: »Wer ist da?«
»Commissaris van Leeuwen.«
Die Stimme schwieg einige Sekunden, dann fragte sie: »Was wollen Sie?«
»Ich will reinkommen.«
»Warum?«
Der Commissaris antwortete nicht, was sich als richtig herausstellte, denn einige Sekunden später sagte die Stimme:
»Kommen Sie, aber allein!« Dann summte der Türöffner. Der Commissaris gab Inspecteur Vreeling und den Männern des Einsatzkommandos ein Zeichen, ich gehe allein, ihr wartet auf weitere Anordnungen , bevor er die Tür aufstieß. Rasch schritt er durch die elegant mit Holz und Marmor dekorierte Diele zur Treppe des schmalen Hauses. Seine linke Hand steckte in der Tasche des fast völlig aufgeweichten, schwer an seinen Beinen klebenden Trenchcoats. Inspecteur Vreelings Sig Sauer, die er in der Tasche umklammerte, machte ihn nicht leichter.
Das Erdgeschoss und die Treppe lagen im Dunkeln. Als Van Leeuwen die Stufen hinaufstieg, verspürte er wieder einen stechenden Schmerz im Gelenk der eingegipsten Hand. Auf demTreppenabsatz sah er sich um. Er bemerkte die angelehnte Tür gleich vorn im Gang des ersten Stocks und ging darauf zu. »Doktor Jacobszoon?«, sagte er. Er bekam keine Antwort und ging weiter, bis er die Tür erreicht hatte. »Doktor Jacobszoon? Doktor van der Meer?« Er stieß die Tür auf. Der Raum dahinter war ebenfalls von Halbdunkel erfüllt, dem Zwielicht, das durch die herabgelassenen Jalousien fiel.
»Ich bin hier«, hörte er wieder die Stimme. Sie gehörte Jacobszoon, wirkte aber merkwürdig hohl, fast körperlos. Es klang weniger wie ein Hinweis, sondern eher, als wollte sie sich
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