TotenEngel
gewesen.«
»Nein, nein, nein!« Jacobszoons Augen waren so groß, dass sie selbst im Halbdunkel schimmerten. »Ich war da, ich war …«
»Sie waren nicht da, Sie sind nicht Maurits Scheffer. Maurits Scheffer ist tot, er hat sich umgebracht.«
Jacobszoon schüttelte den Kopf. »Nein – nein. Meine – meine Mutter …«
»Sie sind nicht Sara Scheffers Sohn«, wiederholte der Commissaris. »Sie sind nicht der Junge, der von Conrad Mueller vor dem Ersticken gerettet wurde. Sie sind der Junge, dem Conrad Mueller davon erzählt hat, immer wieder, Nacht für Nacht. Sie sind Conrad Muellers Sohn Roelof. Sara Scheffers Sohn hat nichts mit dieser Situation zu tun, nichts damit, weswegen ich hier bin. Nachdem Ihr Vater ihn gerettet hatte, kam Sara Scheffers Junge in die Obhut von entfernten Verwandten, die ihm den Namen Maurits gaben – Maurits Rommel, so hieß er dann. Später, als er zwölf war, steckten sie ihn in ein Internat in Groningen, und dort hat er eines Tages erfahren, wer seine Mutter war und was sie mit ihm und seinen Geschwistern gemacht hatte. Mitschüler fanden es heraus, und grausam, wie Kinder sind, fingen sie an, ihn zu hänseln. Eine Zeit lang hat er versucht, damit zu leben – erinnern Sie sich? –, und alsdas nicht mehr ging, hat er sich umgebracht. Er hat sich mit einer Plastiktüte erstickt, an einem sechsundzwanzigsten September, dem Tag seiner Geburt.«
Jacobszoon stand unverändert still, reglos, lauschend.
»Sie haben auch versucht, damit zu leben«, fuhr der Commissaris fort, »nur dass Sie es schon viel früher wussten als er. Ihr Vater hat es Ihnen jede Nacht erzählt, als Sie ein kleiner Junge waren. Er hat Sie geweckt, weil er mit jemandem darüber reden musste und seine Frau es nicht mehr hören wollte. Sie haben genauso wie Maurits versucht, damit zu leben, und Ihnen gelang es genauso wenig. Bloß, dass Sie nicht sich umgebracht haben, Sie haben andere umgebracht, und Ihr Vater war der Erste. Sie haben ihn aus Mitleid getötet, weil er seine Erinnerungen nicht ertragen konnte, weil er nicht mehr mit ihnen leben wollte, aber selbst nicht die Kraft besaß, sich zu töten. Sie haben ihn auf dieselbe Weise umgebracht, wie Maurits sich das Leben genommen hatte, bei einem Besuch in den Ferien, und niemand ist auf den Gedanken gekommen, dass es sich um Fremdeinwirken gehandelt haben könnte. Das war Ihr erster Mord, begangen an einem dritten Oktober, dem Tag, an dem Ihr Vater Maurits gerettet hatte, dem Tag seiner zweiten Geburt.«
Bei dem Wort Mord zuckte Jacobszoon zusammen und wölbte die Schultern vor, ganz leicht nur, als fürchtete er, geschlagen zu werden. Sein Blick flog zu der einen Spaltbreit offen stehenden Tür des angrenzenden Raumes hinüber. Plötzlich hatte der Commissaris das Gefühl, dass sie doch nicht allein waren; dass noch jemand da war, hinter der angelehnten Tür. Van der Meer , dachte er, van der Meer ist nebenan und wartet . Er schob die gesunde Hand in die Tasche und umfasste den Griff der Sig Sauer.
»Sie haben sich so sehr in Maurits Scheffer hineinversetzt«, sagte er, »haben solchen Anteil an seinem Schicksal genommen, dass Sie glaubten, es müsse sich um Schicksal handeln, als der Zufall Sie damals tatsächlich zusammenführte. Dabei war es gar nicht so abwegig – es gab ja nur ein Internat in der Gegend, und dort war Ihre Mutter Köchin geworden, nachdem sie Ihren Vater verlassen hatte,mit Ihnen. Zu der Zeit wurde Maurits schon psychologisch betreut, und als Sie einmal mitbekamen, wie nah er und der Psychologe einander waren, fassten Sie den Wunsch, genau diesen Beruf eines Tages zu ergreifen – Sie wollten Psychologe werden, um anderen helfen zu können.«
Mit beiläufigen, unauffälligen Schritten bewegte Van Leeuwen sich auf die angelehnte Tür zu. »Nach der Trennung von Ihrem Vater hatte Ihre Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen, Jacobszoon. Und auch Sie wollten nicht mehr Mueller heißen. Nach dem Abitur fingen Sie an, Psychologie zu studieren, und wie wir herausgefunden haben, lernten Sie an der Universität bei einem Gastvortrag Klaas van der Meer kennen. Er nahm sich Ihrer an. Für ihn wurden Sie die Blumenerde, in die er sich selbst hineinpflanzte. Er hörte Ihnen zu, er spürte Ihre Verwirrung und wusste, dass er Sie eines Tages brauchen könnte, als sein Werkzeug. Er war wie ein Ersatzvater für Sie, nicht?«
»Ich gehörte nirgendwo dazu«, bekannte Jacobszoon stockend. »Es war, als wüsste ich nicht, wie man lebt.« Seine
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