TotenEngel
Zuiker?« Gott segne die Schlaflosen, dachte der Commissaris.
»So heißt er wohl, ja, steht zumindest auf dem Beipackzettel. Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen. Können Sie auf einen Sprung vorbeikommen, Mijnheer?«
»Jetzt?«
»Ist doch besser als der Bahnhof.«
Der Commissaris fragte sich, ob Holthuysen in der Gerichtsmedizin schlief, auf einem der Sektionstische oder in einer Kühlschublade. »Ich bin gleich da«, erklärte er und legte auf.
»Wo bist du gleich?«, erkundigte sich der Hoofdcommissaris.
»In der Leichenhalle«, erwiderte Van Leeuwen, ohne sich in diesem Moment der Doppeldeutigkeit seiner Antwort bewusst zu werden. Erst viel später, als er unter einer Zellophantüte verzweifeltnach Luft rang, sollte sie ihm wieder einfallen. Und da – während sein Leben zwischen zwei endlos gedehnten Herzschlägen langsam stehen zu bleiben schien – wurde ihm auch klar, dass er bereits in dieser Nacht einem Leuchtpunkt in einem schrecklichen Diagramm glich. Von sehr weit oben betrachtet, stellte das Diagramm ein Dreieck dar, dessen beide anderen Punkte ein geisteskranker Mörder und die nächtliche Leichenhalle waren.
Ebenso wenig ahnte der Commissaris, dass sich aus diesem Blickwinkel von sehr weit oben alle drei Punkte in den kommenden Tagen und Wochen immer näher aufeinander zu bewegen sollten, bis endlich zwei davon zu einem einzigen verschmolzen. Vor allem aber ahnte er nicht, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig offen war, welcher der Punkte letztlich und für immer mit dem Seziertisch in der nächtlichen Pathologie verschmelzen würde, von sehr weit oben betrachtet.
8
Cousin Wus Brust stand offen, und die Lungenflügel spreizten sich zu beiden Seiten des Herzens wie die blattlosen Ranken von wildem Efeu. Die blutleeren Adern bildeten mit den Verästelungen der Luftröhre ein bläulich graues Dickicht aus Gefäßen, Nerven und Muskeln, das dicht über dem Nabel zu wurzeln schien. Reste von Blut glitzerten feucht im grellen Licht der OP -Lampe über dem Seziertisch. Die Arterien waren nicht mehr blau und die Venen nicht mehr rot, und das Herz wirkte klein und eingefallen. Man konnte fast sehen, dass die Seele schon irgendwo anders hingezogen war.
In der Luft hing der süßliche Fäulnisgeruch, der jede Leiche umgab, der Geruch von zersetztem Fleisch, von Fäkalien und Urin, und trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war er so stark, dass der Commissaris einen Anflug von Unruhe im Magen spürte, ein Aufbegehren. Er dachte an Menthol, an eine Rose in voller Blüte. Es gab Kollegen, die Leichen nur noch mit den Augen wahrnahmen. Sie konnten keinen Urin mehr riechen, keineAusscheidungen, egal, welcher Art; ihr Gehirn verweigerte sich dem Geruch des Todes.
Doktor Holthuysen deutete auf das Mikrofon über dem Seziertisch und fragte: »Soll ich Ihnen das Band mit dem Leichenöffnungsprotokoll vorspielen?«
»Eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte reicht mir«, sagte der Commissaris. »Auf die Finessen freue ich mich dann in Ihrem schriftlichen Bericht.«
Der Pathologe nickte, als hätte er in der Tat einige raffinierte Kostbarkeiten forensischer Natur vorbereitet, deren wahrer Wert erst auf dem Untergrund weißen Papiers oder im Rahmen eines Computerbildschirms zur Geltung kam. Er hielt die Hände in den grünen Latexhandschuhen abgewinkelt, damit die blutbedeckten Fingerkuppen nicht mit dem offenen Kittel, dem karierten Hemd oder der ausgebeulten Cordhose darunter in Berührung kamen. Die Farbe des Blutes passte nicht ganz zum rötlichen Hennaton seiner Haare, und die Haltung der Hände erinnerte den Commissaris an die Darstellung des Gottessohnes auf den bunten Votivbildern aus seiner Messdienerzeit.
»Also dann«, begann der Pathologe, »Name: Jun Wu, gefunden in der Wohnung von Zheng Wu am Zeedijk einhundertsiebzehn von Mijnheer Bruno van Leeuwen, Commissaris der Kriminalpolizei Amsterdam-Amstelland. Eintritt des Todes: gestern zwischen siebzehn und achtzehn Uhr. Offizielle Todesursache: Tod durch akuten Sauerstoffmangel infolge Erdrosselns mit einer Drahtschlinge. Die Drosselmarke befindet sich oberhalb des Kehlkopfes und lässt darauf schließen, dass der Täter das Drosselwerkzeug nur ein Mal um den Hals des Opfers gelegt hat. Im Nacken findet sich eine freie Stelle, keine Zwischenkammblutung. Zustand der Leiche: gut.« Er gab ein glucksendes Geräusch von sich. »Der Tote war siebenunddreißig Jahre alt und wog sechzig Kilogramm. Durchgeführt wurde die normale
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