TotenEngel
dünner vorgekommen als sonst, zerbrechlich, und er hatte sich gefragt, ob er sich Sorgen um sie machen musste. Sie verschwindet untermeinen Augen, hatte er gedacht. Und als hätte sie seine Gedanken geahnt, hatte sie gesagt:
»Du nimmst immer mehr Raum ein, Bruno. Ich weiß nicht mehr, wie ich noch neben dir bestehen kann. Ich kriege kaum noch Luft in unserer Wohnung. Du bist so mächtig, so kräftig. Dein Leben ist wertvoller als meins, das schüchtert mich ein.«
Er war aufgestanden und hatte sie hochgehoben, er hatte sie tatsächlich hochgehoben, nackt wie sie war, und zum Spiegel am Kleiderschrank getragen. Vor dem Spiegel hatte er sie abgestellt, an beiden Oberarmen gehalten und gesagt: »Sieh dich an. Du bist viel zu dünn. Du musst mehr essen, sonst wird es krankhaft.«
Plötzlich hatte sie sich losgerissen, mit jäher Wildheit war sie zu ihm herumgefahren. »Willst du etwa behaupten, ich sei krank?! Willst du sagen, mit mir stimmt etwas nicht?!«
Sie hatte nicht gewusst, dass sie tatsächlich krank war, und er hatte es auch nicht gewusst. Es war nur eine Ahnung gewesen, die ihnen beiden Angst gemacht hatte.
Eine Erinnerung, nur eine; auch wenn es eine schlechte war.
Van Leeuwen sah sein Spiegelbild als Schemen auf der Scheibe, als wäre er selbst aus Glas; aus schmerzendem, müdem, nutzlosem Glas. Dann gesellte sich ein zweiter, größerer Schemen zu seinem Spiegelbild. Ein Mann in einer dunkelblauen Uniform trat vor dem Hintergrund der Notbeleuchtung auf dem Gang in sein Büro, blieb bei der offenen Tür stehen und sagte:
»Geh nach Hause, Bruno! Ruh dich aus! Geh schlafen!«
Es war eine neue Angewohnheit des Hoofdcommissaris, Dinge mehrmals leicht abgewandelt zu wiederholen, damit dem Zuhörer kein Aspekt seiner Erkenntnisse oder Befehle entging.
»Gleich«, sagte der Commissaris.
Der Hoofdcommissaris konsultierte seine runde Armbanduhr mit dem Stoffarmband in den niederländischen Nationalfarben, die er seit einigen Wochen an der Innenseite des Handgelenks trug. Er trat näher ans Fenster. »Du kannst kaum noch stehen vor Müdigkeit.«
»Ich weiß. Ich gehe gleich schlafen.«
»Wo? Im Bahnhof?« Joodenbreest trat noch näher, bereit, Van Leeuwen einen Arm um die Schultern zu legen. »Das muss aufhören, Bruno – ein Offizier der Polizeitruppe Ihrer Majestät, ein hoher Offizier! Du bringst nicht nur dich, du bringst uns alle in Verruf. Ich möchte, dass du einen Termin bei Doktor Menardi machst.«
»Warum?«
»Warum? Du weißt, warum.«
»Nein. Warum?
»Weil du im Bahnhof schläfst.«
»Nur wenn ich zu Hause nicht schlafen kann. Du siehst also, ich schlafe.«
Joodenbreest räusperte sich. Es war ein scharfes, schmales Räuspern, denn er war ein scharfer, schmaler Mann mit einem Gesicht, das auf die scharfe, schmale Seite eines Schilfblattes gepasst hätte. Das dünne, hellblonde Haar, das er straff aus der hohen Stirn kämmte, kontrastierte selbst im Dunkeln auffällig mit seiner von Höhensonnenbestrahlung verbrannten Haut. Seine wässrigen blauen Augen schimmerten frostig wie Sterne, die schon vor Lichtjahren erloschen waren. In mühevoller Arbeit an sich hatte er es geschafft, seinem Auftreten jegliche Herzlichkeit zu nehmen und seinem Gesicht alle Wärme. Sein Mienenspiel wechselte von kühl zu kalt und wieder zurück. Wie eine dünne, große Echse auf einem sonnenbeschienenen Stein konnte er seine Umgebung völlig ausdruckslos beobachten, wahrscheinlich sogar seine Frau und seine Kinder. Sicher vor Gefühlen, vor Enttäuschungen, vor Wunden, lag er in sich selbst lebendig begraben. Wahrscheinlich, dachte Van Leeuwen, war er schon als Kind so gewesen – unzugänglich, verschlossen, ein Junge, den nie jemand weinen gesehen hatte.
»Simone ist erst sechs Wochen tot, und ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte der Hoofdcommissaris. »Sie war eine großartige Frau, vor allem, als sie noch …«
Van Leeuwen erstarrte. »Du hast nicht die leiseste Ahnung, wie sie war«, unterbrach er Joodenbreest.
»Also, wir alle vermissen sie«, Joodenbreest räusperte sich erneut, »jeder hier trauert aufrichtig um sie …«
»Du könntest aufrichtige Trauer nicht von Möwenscheiße unterscheiden!«, sagte Van Leeuwen.
Joodenbreest war nicht gekränkt. »Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Du weißt nicht, wovon du sprichst«, sagte Van Leeuwen.
»Es geht um deine Art – du übertreibst in allem, was du tust. Früher dachtest du, du hättest das Glück gepachtet, und jetzt tust du so, als
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