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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Eigentlich müsste ich Ihnen Handschellen anlegen, aber ich glaube, das wird nicht notwendig sein. Ich werde also nur einen Wagen anfordern, der Sie und Ihren Rollstuhl abholt, und während wir darauf warten, werde ich Sie über Ihre Rechte ins Bild setzen. Ach, was ist das überhaupt für ein Leiden, das Sie an diesen Stuhl fesselt, Mijnheer Wu?«
    »Das schrecklichste überhaupt«, antwortete der Chinese leise, »das allerschrecklichste.«

7
    Der Commissaris stand in seinem Büro am Fenster und sah auf die Straße hinunter, und alles an ihm schmerzte vor Müdigkeit. Das Hoofdbureau van Politie lag auch bei Nacht niemals in völliger Dunkelheit, aber in seinem Büro brannte kein Licht, und auf den Gängen herrschte Stille. Er war lange nicht mehr so müde gewesen. Er konnte die Brücke sehen und die Gracht und die Straßenbahnhaltestelle unter dem Fenster, aber das Wasser nicht. Seine Lider schmerzten, die Augen brannten, der Nacken tat weh. Du solltest nicht erst nach Hause gehen, wenn du so müde bist, dachte er. Hol das zusammengeklappte Feldbett aus dem Schrank, und leg dich gleich hier hin, sonst wirst du wieder wach.
    Er fragte sich, ob es an dieser Müdigkeit lag, dass ihm schien, als enthielten die letzten beiden Tage ein großes, paradoxes Geheimnis: Es gab einen Mordfall, in dem er nicht ermitteln musste, weil der Täter sich selbst gestellt hatte, und es gab einen Todesfall, in dem er unbedingt ermitteln wollte, obwohl bisher noch nicht der geringste Hinweis dafür existierte, dass es sich überhaupt um einen Mord handelte. Genau genommen wusste er nicht einmal, ob paradox der richtige Begriff war und ob er sich das große Geheimnis nicht nur einbildete. Vielleicht verhielt einfach er selbst sich paradox.
    Er dachte an das Manifest aus dem Internet, das Testament eines Highschool-Killers namens Cho Seung Hui, der zweiunddreißig Menschen getötet hatte und dann sich selbst. Der Ausdruck lag auf Van Leeuwens Schreibtisch, und ganz am Anfang stand: Ihr hattet hundert Milliarden Chancen, das hier zu vermeiden. Aber ihr habt entschieden, mein Blut zu vergießen. Ihr habt mich in die Ecke getrieben und mir nur einen Weg gelassen. Das war eure Entscheidung. Jetzt habt ihr Blut an euren Händen, das sich nie mehr abwaschen lässt.
    Van Leeuwen stellte sich vor, wie Gerrit Zuiker in seiner Dachkammer kauerte, diese Worte las und dabei immer wieder Help me if you can hörte. Er schaute auf die Lichter jenseits der schmalen Gracht, die nächtliche Stadt, und fragte sich, ob wohl in diesemMoment jemand aus einem der Häuser an diesen Straßen zu ihm herübersah, zu einem Mann, der allein in einem dunklen Büro des Polizeipräsidiums am Fenster stand. Und wenn da jemand war, was dachte er wohl?
    Niemals kann ich jemand davon erzählen. Das Leben hat Zheng Wu zermalmt. Sein Leid durchzieht alles, und in ihm ist nur noch die Traurigkeit des Herbstwindes. Es gibt keine Verbindung mehr zwischen ihm und der Welt. Ja, Zheng Wu wäre am liebsten tot.
    Was ist so schrecklich, dass man niemandem davon erzählen kann?, fragte sich der Commissaris. Enthielt das Geheimnis ein weiteres Geheimnis? Ein verzweifeltes Opfer und ein verzweifelter Mörder; einer, der aller Welt mitteilte, dass ihm das Wasser bis zum Hals stand, und einer, der lieber tötete, als zuzulassen, dass irgendjemand davon erfuhr, und gemeinsam war ihnen nur ihre Verzweiflung.
    Van Leeuwen hörte Autohupen, die Sirene einer Ambulanz oder eines Feuerwehrwagens. Einen Moment verspürte er eine langsam anschwellende Panik, als könnte er in all dieser Dunkelheit für immer verloren gehen. Er suchte nach sich selbst auf der Fensterscheibe und fragte sich, ob er überhaupt wie bisher weiter existierte, jetzt, da nur er allein sich noch an den größten Teil seines Lebens erinnerte.
    Plötzlich fiel ihm eine Nacht vor zwei Jahren ein, eine Winternacht. Simone hatte schon an der Schwelle zur Krankheit gestanden, nur hatte sie es noch nicht gewusst. Sie lag im Bett, neben ihm, auf den Ellbogen gestützt, und sah ihn an, sah hinunter auf sein Gesicht. In der Dunkelheit konnte er nur ihre glänzenden Augen erkennen. Sie summte zufrieden vor sich hin, er dachte, dass sie lächelte. Aber es war kein Lächeln gewesen, keine Zufriedenheit, sondern Hilflosigkeit: so viel Leidenschaft, die sich nicht bewahren ließ – nicht auf Dauer, nicht, bis es gleichgültig wurde, weil etwas anderes an ihre Stelle getreten war.
    Er wusste nicht mehr, warum, aber auf einmal war sie ihm

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