TotenEngel
Autopsie – eine toxikologische Untersuchung, die feingewebliche Analyse und die obligatorische Drei-Höhlen-Obduktion, das heißt, ich habe mir Bauch, Brustkorb und Kopf angeschaut.« Er unterbrach sich, um erklärend zu ergänzen:»Tod durch Sauerstoffmangel bezeichnen wir als Ersticken, das sind alle Todesarten, bei denen innere Organe, insbesondere das Gehirn, ihren Dienst versagen, weil ihnen kein Sauerstoff mehr zugeführt wird. Nach mindestens zwanzig Sekunden und höchstens zehn Minuten erstickt dann jeder, weil die Hirnzellen irreparabel geschädigt sind.«
Holthuysen begleitete seine Worte mit ausgreifenden Bögen, die er schwungvoll in die Luft zeichnete, wobei das feuchte Blut an den Fingerkuppen im blassen Licht der Leichenhalle feurige Leuchtspuren hinterließ. Anders als der Jesus Christus auf den Heiligenbildchen aus Van Leeuwens Jugend hatte er ein gerötetes, von verborgenen Leidenschaften und ihrer lustvollen Befriedigung gezeichnetes Gesicht. Zahllose Sommersprossen bedeckten die von geplatzten Äderchen durchzogene, runzelige Haut, und das Haar kräuselte sich hinter den Ohren und im Nacken, wo es über den Hemdkragen bis auf den weißen Kittel reichte. Die kleinen, traurigen Augen schienen sich desillusioniert tief in ihre Höhlen zurückgezogen zu haben. Über den schmalen Brauen wölbte sich eine Stirn, die Van Leeuwen bei jeder Begegnung höher vorkam, als müsste dahinter von Mal zu Mal mehr Raum für das schreckliche Gedränge der Leichen geschaffen werden, die statt in Särgen und Gräbern in seinem Kopf ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
»Sehen Sie, die Lungenflügel sind fast luftkissenartig gebläht, und da, da und da haben wir auch die unvermeidlichen subpleuralen Flecken, wo aufgrund der massiven Lungenerweiterung beim Tod die Kapillaren zerrissen sind«, erklärte der Pathologe und deutete nacheinander auf mehrere Stellen unter dem zurückgeklappten Lungenfell im ypsilonförmig aufgeschnittenen Brustkorb des jungen Chinesen. »Stauung und Zyanose des Gesichts sind ein typisches Zeichen für asphyktisches Ersticken, ebenso die Anämie der Milz, der Leber und der Niere.«
»Die kleinen roten Punkte unter den Augen …«
»Geplatzte Äderchen, ausgelöst durch den Blutstau im Gehirn«, kommentierte Holthuysen. »Weitere Stauungszeichen können Siean den Bindehäuten und der Rachenschleimhaut erkennen. Am Hals finden sich Hämatome und Ecoriationen, ein klassisches Indiz für Tötung durch Erdrosseln. Außerdem liegt eine Fraktur der Trachea vor, was darauf schließen lässt, dass der Täter die Schlinge schnell und mit großem Kraftaufwand zugezogen hat. Stumpfe Gewalt wurde in diesem Fall nicht angewandt.«
Der Commissaris versuchte, sich vorzustellen, wie Zheng Wu seinen Cousin erdrosselte: Er sah Jun vor dem Rollstuhl knien, die Schlinge um Hals und Nacken geschlungen; sah sein schmerzverzerrtes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen, während Zheng hinter ihm die Fäuste mit dem Draht drehte und zog und zog, und wie sein Gesicht dabei fast genauso rot wurde wie das seines sterbenden Cousins.
Unterdessen setzte Doktor Holthuysen zu einem kleinen Divertimento an. »Es gibt vier Mechanismen, die den tödlichen Mangel an Sauerstoff bewirken können: A – die Halsweichteile werden zusammengedrückt und die Schlagadern verschlossen; B – der Zungengrund oder der gequetschte Kehlkopf drücken die Atemwege nach oben, die Atmung wird also mechanisch verhindert; C – der Genickbruch mit Quetschung des oberen Halsmarks, der sogenannten hangman’s fracture , und D – der Reflextod, bei dem die Nervenknoten seitlich am Hals geschädigt werden. In all diesen Fällen lässt sich Fremdeinwirken anhand der Spuren einigermaßen leicht nachweisen. So auch bei der Tötung von Jun Wu«, Ende der Variation und Rückkehr zum Thema, »in dem die Kompression des Halses durch ein Werkzeug – in unserem Fall eine Drahtschlinge – vorliegt. Durch den Druck werden die beiden wichtigsten Arterien, die im Hals verlaufen, und die weiter innen liegenden Venen abgeschnürt. Dazu ist es nicht einmal nötig, dass der Draht, Strick oder Gürtel den Hals vollständig umschließt.«
Der Commissaris verdrängte das Bild des sterbend vor seinem Cousin knienden Chinesen. Er rieb die Hände gegeneinander, denn die Temperatur in dem klimatisierten Sektionssaal war niedrig genug, um tiefgefrorene Rinderhälften vor dem Auftauen zu bewahren. Dann warf er einen letzten Blick in Jun Wus offenenBrustkorb
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