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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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etwas übersehen?, fragte sich der Commissaris. Einen Hinweis, eine Spur, einen weißen Fleck?
    Nachdenklich starrte er auf den Bildschirm des Laptops. Er sah Gerrit Zuiker durch de wallen gehen, ein wenig unscharf und etwas zu dunkel, als wären die Bilder mit einem Filmhandy aufgenommen worden. Der Lehrer ging langsam, mit unsicheren Schritten, und weit vor ihm ging Ruud Meijer. Van Leeuwen sah ihn nur von hinten, er sah beide nur von hinten. Er folgte ihnen unsichtbar durch den sacht fallenden Regen, die verschwommen schillernden Lichter. Er sah, wie Zuikers Hemd langsam nass wurde und wie seine Schulterblätter hervorstachen, wenn er seine Aktentasche an sich presste. Er hielt ausreichend Abstand, blieb stehen, wenn der Lehrer stehen blieb, und ging in seinem raschelnden Plastikregenmantel weiter, sobald Zuiker weiterging. Die erleuchteten Fenster blieben allmählich zurück, auch die anderen Fußgänger wurden weniger, das Licht ließ nach. Dunkelheit breitete sich aus. Er konnte nur noch den hellen Rücken des Lehrers sehen, und jetzt war er nicht mehr Van Leeuwen, er war jemand anders, jemand, der eine Plastiktüte aus der Tasche des Regenmantels zog, der schneller ging, immer schneller, bis er Zuiker fast erreicht hatte.
    Plötzlich sah er den Jungen und blieb stehen. Er beobachtete Zuiker und den Jungen, sah die heftigen Gesten, die einen Streit begleiteten, dann einen Schlag. Der Junge stürzte zu Boden, war aber rasch wieder auf den Beinen und versetzte dem Lehrer einenTritt gegen das Knie. Jetzt lag Zuiker auf dem Pflaster, während der Junge lachte; er lachte wie eine Zeichentrickfigur und ging mit den schlurfenden, etwas ruckhaften Schritten eines Anime-Charakters davon. Zuiker versuchte, wieder hochzukommen, und das war er: Das war der Moment, in dem sie blitzschnell miteinander verschmolzen, der Mörder und das Opfer, ein Kopf, eine Tüte, ein wild um sich schlagender Körper, der schlaff wurde.
    Aber wer war er ? Warum drehte sich das Handy mit der winzigen Kamera nicht um, sah ihm ins Gesicht und zeigte seinen Anblick unter dem Schirm seiner Kappe? Bitte, dreh dich um! Los doch, dreh dich um! Und da, ganz langsam, geschah es tatsächlich: Die Kamera hob sich von dem reglos daliegenden Lehrer, schwenkte durch die dunkle Gasse und an den Wänden entlang, zeigte die Feuertür und die Müllsäcke, drehte sich langsam um hundertachtzig Grad, und was Van Leeuwen sah, war das: eine Maske, nein, eine verzerrte Fratze, das Gesicht eines Chinesen, der ihn wild anstarrte, mit schwarzen Augen, und schrie. Er schrie: Es tut mir leid machen Umstände , und dann schlang er ihm jählings einen Draht um den Hals und zog zu, zog und zerrte und schrie: Tut sehr leid, ja, sehr leid!
    Van Leeuwen blinzelte. Er hatte geträumt, mit offenen Augen geschlafen. Hastig trank er mehr Kaffee, leerte die ganze Tasse und schenkte sich wieder ein. Dann folgte er dem Traum: Zheng Wu, der seine Tat gestand, das Motiv aber nicht preisgeben wollte. Er dachte an das Verhör am Nachmittag, an den Beschluss des Staatsanwalts, Wus Frau Ailing zur Befragung nach Amsterdam kommen zu lassen. Eine rasche, richtige Entscheidung. Die Briefe, die sie in Wus Wohnung gefunden hatten, lagen bereits beim Übersetzer, und morgen würde Inspecteur Vreeling sich in Chinatown umhören. Er konnte das gut, die Menschen öffneten sich ihm, besonders die, die wie er ihre Wurzeln nicht in den Niederlanden hatten.
    Vielleicht ist das einer von den seltenen Fällen, die sich schnell aufklären lassen, dachte Van Leeuwen. Wir haben einen Mörder, ein Opfer und ein Geständnis. Doch der Staatsanwalt suchte nicht nur den Erfolg vor Gericht; er wollte dem AngeklagtenGerechtigkeit zuteilwerden lassen, nötigenfalls gegen dessen Willen. Handelte es sich um einen Mord aus niederen Motiven, oder gab es mildernde Umstände? War Zheng Wu nur Täter oder auch Opfer?
    Der Commissaris fragte sich, warum Zheng Wu so verbissen schwieg und wie er ihn zum Reden bringen konnte, falls seine Frau Ailing gar nicht wusste, was hier geschehen war und warum; wenn Zheng Wu der Einzige war, der Licht in das Dunkel bringen konnte.
    Er suchte die letzte Botschaft des koreanischen Amokläufers, die Worte, die Cho Seung Hui an seine Opfer gerichtet hatte. Er fand den Ausdruck unter der Zeitung.
    Ihr habt nie in eurem Leben auch nur ein Quäntchen Schmerz gefühlt, und in unserem Leben wollt ihr so viel Leid wie möglich schaffen. Einfach nur, weil ihr es könnt. Ihr hattet alles, was ihr

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