TotenEngel
Schiffes zu stehen, das langsam, aber stetig in zunehmendem Nebel auf einen fernen, dunklen Kontinent zufuhr. Er schloss die Fensterflügel wieder. In der Küche kochte er sich Kaffee, eine ganze Kanne voll, die er mitnahm ins Arbeitszimmer, wo auf dem Schreibtisch noch die ungespülte Tasse von letzter Nacht stand. Wozu eine Tasse spülen, aus der nur einer trinkt?
Er knipste die Schreibtischlampe an. Das Licht fiel auf ein Poster an der Wand gegenüber, die Reproduktion eines Caprichos von Francisco de Goya, das einen schlafend an seinem Schreibtisch zusammengesunkenen Mann im knielangen Hausrock zeigte. Der Kopf des Mannes war auf seine Arme gesunken. Über seinem Kopf kreisten hässliche Fledermäuse. Eulen hatten auf dem Schreibtisch Platz genommen, und hinter seinem Stuhl lag ein Luchs auf der Lauer: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer . Damit, dachte der Commissaris, hatte Goya alles über die Arbeit eines Polizisten gesagt.
Er setzte sich an den Schreibtisch, hinter sich im Halbdunkel des Raumes kein Luchs, sondern ein zerschlissener Polstersessel mit Lederbezug, eine Stehlampe, ein kleiner Fernseher auf einem Beistelltisch und Buchregale, die bis zur Decke reichten, gefüllt mit Sachbüchern über Medizin und Politik, über Kunst, Kultur und das Wesen der Zivilisation. Und über Mörder in jeglicher Form ihrer geistigen Abnormität, als Einzeltäter, Serienkiller oder Amokläufer, als Kriegsverbrecher, Könige, Präsidenten oder Reichskanzler.
Der Commissaris schenkte sich Kaffee ein, griff nach der Titelseite von De Avond! und las den Artikel über den Freispruch des Arztes, den die Medien Dr. Death getauft hatten. Doktor Klaas vander Meer betrieb eine private Sterbeklinik in der Nähe von Haarlem, wo er Todkranke erlöste, von den quälenden Schmerzen, von ihrem Leiden, vom Leben – eine Spritze mit Kaliumchlorid, die er in den Blutkreislauf leerte, und danach gab es weniger Leid und weniger Qual.
Van Leeuwen erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Arzt, an seine Überraschung. Van der Meer war ein gebildeter Mann, der an das Recht auf einen eigenen Tod glaubte, als Ende eines ebenso eigenen Lebens. Er war davon überzeugt, dass es ein Elend gab, das jedes Maß überstieg, unerträgliche Schmerzen, von denen ein Arzt seinen Patienten erlösen durfte, wenn der ihn darum bat. Aber Van der Meer war auch janusköpfig, mit einem Hang zur Selbstdarstellung, eitel wie ein Chirurg. Er hatte Feinde. Sie triumphierten, als eine Mutter ihn wegen Mordes anzeigte, weil er dem erwachsenen Sohn der Frau in den Tod geholfen hatte, obwohl der Patient, als die Spritze schon gesetzt war, plötzlich geschrien hatte: Nein, nein, nein ! Van Leeuwen war der Polizeibeamte gewesen, der ihn verhaftet hatte.
In einem aufsehenerregenden Prozess war Van der Meer vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden, aber das Gericht hatte ihn wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Er triumphierte über seine Feinde, indem er die Bewährung zurückwies und die Strafe antreten wollte. Als ihm das nicht gestattet wurde, zog er seinerseits vor Gericht und gewann: keine Bewährung mehr, auch keine unterlassene Hilfeleistung, kein Mord. Doch vor einigen Monaten war er neuerlich angezeigt und unter Anklage gestellt worden, diesmal, weil er in seiner Klinik einem sterbenskranken elfjährigen Jungen die Todesspritze gegeben hatte – gegen den Willen der Eltern und ohne einen zweiten Arzt zu konsultieren, wie es das Gesetz zur aktiven Sterbehilfe verlangte.
Nun war er also auch aus diesem Prozess als freier Mann hervorgegangen.
Van Leeuwen schaltete den Laptop ein und kramte seinen Notizblock hervor, um seine Eindrücke von den letzten Befragungenzusammenzufassen. Er trank einen Schluck von dem starken, heißen Kaffee. Er begann mit Pieter Hoekstra, dem Turnlehrer, der vom Zeugen zum Verdächtigen geworden war, an dessen Schuld er aber nicht wirklich glaubte. Anschließend schrieb er nieder, was ihm von Ruud Meijer in Erinnerung geblieben war, von seiner Unsicherheit und seinem Zorn auf Gerrit Zuiker, der ihn enttäuscht hatte. Ein Schüler oder auch ein Verdächtiger? Ein Junge, der sich auf seinem Gameboy Hitman 2 anschaute, um zu lernen, wie man Profikiller wurde. Und worin genau lag seine Enttäuschung? Schließlich Margriet Zuiker, zum zweiten Mal befragt und nun vom Opfer zum Täter geworden, schuldig allerdings nur des Ehebruchs, wohl kaum des Mordes. Hatte er
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