TotenEngel
hatte nicht schlafen können wegen der du darfst nicht darauf achten, und wenn es ihr so ging, gab es nur einen Platz, wo sie es aushielt, noch am Leben zu sein. Bald kamen die anderen, um mit dem Einpflanzen der Tulpenzwiebeln zu beginnen, aber der Mann war keiner von den anderen; man konnte sehen, dass die Tulpen ihm egal waren. Unter seinen Stiefeln stieg Staub auf und trieb davon, und die Frau stellte sich vor, wenn jetzt schon Frühling wäre und alles in voller Blüte stünde, dann würde er mitten durch die roten und gelben undvioletten Tulpen stapfen und eine Spur geknickter Stängel und abgerissener Blüten hinter sich lassen, und es würde ihn wahrscheinlich nicht einmal kümmern. Aber bis zum März oder April war es noch ein halbes Jahr, Hunderte Tage und Nächte, in denen du darfst nicht darauf achten in ihr wüteten und wüteten. Sie umklammerte die Zwiebel, so fest sie konnte.
Es war still über den Feldern. Aus den Gewächshäusern hinter ihr drang das leise Plätschern der Bewässerungsanlagen, und irgendwo zwitscherten Vögel, aber sonst herrschte eine seltsame, fast atemlose Stille. Sie erinnerte sich an so eine Stille, diese ganz bestimmte Stille von früher, als sie ein Kind gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie ihre Mutter in dieser Stille ansah und an die Angst im Gesicht ihrer Mutter, die zu ihrer eigenen Angst wurde, und dann an die schweren Schritte, die näher kamen, draußen vor der Wohnungstür.
Sie erinnerte sich an die Schläge und daran, wie das Kind das Blut der Mutter von den Kacheln in der Küche wischte; wie ein Lappen nicht ausreichte. Sie erinnerte sich daran, wie der Vater danach am Küchentisch saß, reglos, ohne ein Wort, ohne etwas zu sagen, auch nicht, als das Kind fertig war und die Mutter im Schlafzimmer kein Geräusch mehr machte. Die Frau wusste noch, wie sie sich dem Vater zu Füßen gekauert hatte, damit er nicht aufstand und der Mutter nachging und weitermachte, wie sie mit ihren kleinen, feuchten Händen seine großen Finger gestreichelt hatte; er wurde dann ruhig.
Der Mann auf den Feldern war jetzt so nah, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Überrascht verschränkte sie die Arme vor der Brust; sie dachte, dass sie ihn hier nicht erwartet hatte. Die Hände des Mannes steckten noch immer in den Taschen des durchsichtigen Regenmantels, und darunter trug er denselben Anzug wie beim letzten Mal. Er kam geradewegs auf sie zu, Schritt für Schritt für Schritt.
Sie erinnerte sich, wie das Kind in dem kleinen Vorgarten gestanden und gewartet hatte, stundenlang gewartet, worauf nur? Die Mutter lag im Dunkeln auf dem Bett, im Schlafzimmer, undder Vater war mit der großen gelben Kettenraupe fort, und das Kind stand am Gartentor und wartete und wusste nicht, worauf. Erst später fing sie an zu ahnen, worauf sie wartete, weil die Angst es ihr sagte, aber da war sie schon nicht mehr das Kind. Da war sie schon die Frau, und die Schläge trafen sie, und es war ihr eigener Mann, der sie schlug, und ihr eigenes Blut, das sie wegwischte.
Der Wanderer hatte sie jetzt fast erreicht. Seine Augen eilten ihm voraus. Er lächelte, ein kleines, tröstendes Lächeln, das sie nie vorher an einem Mann gesehen hatte, erst bei ihm. Es war, als gäbe es einen Sog zwischen ihnen; als erkenne sie etwas in ihm, das sie so schnell und unwiderstehlich anzog wie ein Magnet. Er war noch nicht ganz da, und doch lag nichts mehr zwischen ihnen. Der Mann nickte kaum merklich, denn er spürte es auch.
Sie dachte, dass sie ihm eine Tasse Kaffee anbieten könnte. Sie wandte ihm den Rücken zu, um ins Gewächshaus zu gehen, und einen Moment sah sie sich in dem Glas gespiegelt. Sie erschrak. Sie erschrak immer wieder, weil es jetzt so schnell ging. Die orangefarbene Hose aus indischer Baumwolle schlotterte ihr um die Beine, und das rot und violett gestreifte Hemd wirkte wie für eine viel größere Frau gefertigt. Unter dem Piratenkopftuch, das sie wegen der Chemo trug, starrten sie zwei riesige Augen an, die fast das ganze Gesicht waren. Die nackten Füße in den Sandalen ähnelten den Krallen eines großen Vogels, eines Kondors vielleicht.
Hinter dem Glas stand ein Holztisch mit einer Kaffeemaschine zwischen den vielen Geräten, die ein Gartenbetrieb brauchte, zwischen den langen Regalen mit Kästen voller Setzlinge, mit den Topfpflanzen, den Säcken mit Blumenerde, den Knollen, Zwiebeln und Samenkörnern. Einen Kaffee durfte sie mit ihm trinken, dachte die Frau, auch wenn sie sonst fast nichts
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