TotenEngel
Akt, eine nächtliche Straße in Amsterdam, übersät mit elektrischen Lichtern . Eine Trambahn rollt vorbei, der Fahrer treibt die Fußgänger mit harten Glockenschlägen auseinander . »Jede Erfindung hatte ihre Kinderkrankheiten, meinst du nicht?«, sagte der Hoofdinspecteur.
»Ja, aber nicht jede hat so unumschränkt als Ventil für negativeEnergien gedient«, beharrte Van Leeuwen. »Warum brauchen die Menschen dieses Ventil? Woher kommt all diese Wut, dieser ganze Schmerz? Wir müssen uns dieser Frage stellen, denn Wut und Schmerz führen zu Aggressivität, und Aggressivität führt zu Verbrechen – nicht nur zu terroristischen Verbrechen, sondern zu ganz normalem Mord, und manchmal sogar zu Morden, die es nicht gegeben hätte, wenn das Internet nicht diese Plattform böte, um damit zu prahlen. Wer hat dieses Klima der Angst und der Hilflosigkeit geschaffen, in dem all die negativen Energien wachsen und gedeihen? Die Politiker? Die Medien? Die Wirtschaftsbosse? Die Terroristen des elften September? Warum schürt Religion plötzlich Hass, statt ihn zu besänftigen? Warum rufen Gläubige zu Mord und Totschlag auf, statt beides zu ächten?«
Plötzlich, mit einem Gefühl von Scham, fiel ihm der Junge in der Straßenbahn ein, den er geohrfeigt hatte; und dann der Jogger auf dem Friedhof. Was ist mit deinem eigenen Zorn?, dachte er.
»Auch vor der Erfindung des Internets haben die Menschen Verbrechen begangen«, wandte Gallo ein. »Sie haben getötet und gestohlen und des Nächsten Weib begehrt, seit dem ersten Tag.«
»Natürlich«, stimmte Van Leeuwen zu, »bloß wussten sie dabei auch immer, dass sie unrecht taten. Seit der Vertreibung aus dem Paradies wussten sie das. Jeder hatte die Freiheit, sich gegen die Regeln und Gesetze der Gesellschaft zu stellen, immer schon. Jedem stand offen, die Grenzen zu ignorieren, die eine Zivilisation ziehen muss. Aber wenn er das tat, meldete sich sein Gewissen und sagte ihm, dass er für diese Verletzung der Gebote, Gesetze oder Regeln betraft wird, dass das der Preis ist, den er für seine persönliche Auslegung des Freiheitsgedankens zahlen muss.«
Er betrachtete die zerfledderten Tauben, die vor der Automatenwand auf und ab stolzierten, immer hungrig, ewig suchend. »Das Gewissen war so was wie ein Polizist im Inneren der Menschen. Ungefragt und ohne richterliche Erlaubnis hat es sich in ihre Angelegenheiten gemischt und dafür gesorgt, dass sie es doch lieber vorzogen, so zu handeln, wie es für die Gesellschaft am besten war. Und dieses Gewissen wurde geformt von Eltern, Lehrern,Priestern, Zeitungen und Büchern, unter anderem. Aber wer bildet in einer Zeit wie unserer die inneren Polizisten aus? Wenn Lehrer die Ehe brechen, Eltern ihre Kinder verwahrlosen lassen, Priester zum Mord aufrufen und Zeitungen sich selbst zensieren, während ein virtuelles Medium wie das Internet Amok läuft – wie können wir dann noch auf ein funktionierendes Gewissen hoffen?«
»Oder auf weiße Weihnachten?«, sagte Gallo und trank den Rest Bier aus seiner Dose, bevor er sie in den Müll warf. »Was genau verbindest du denn mit einem funktionierenden Gewissen um halb zehn Uhr nachts in einem gut besuchten Febo an der Leidsestraat?«
»Den Wunsch nach Vergebung«, antwortete Van Leeuwen. »Wenn der innere Polizist dich schon nicht davon abgehalten hat, das Gesetz zu brechen, kann er wenigstens darauf hinarbeiten, dass du Reue zeigst, und zwar, indem du beichtest. Ohne Beichte keine Vergebung der Sünden. Und diese Vergebung erlangst du, indem du mir, Commissaris van Leeuwen, sagst, was ich wissen will.«
»Du kommst mir vor wie eine dieser russischen Holzpuppen«, meinte Gallo. »In dem alten harten Polizisten steckt der jüngere idealistische Polizist, und in dem steckt der kleine gottgefällige Messdiener, der gerade aus dir spricht. Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass es Menschen geben könnte, die einfach kein Gewissen haben? Oder ganze Kulturen, in denen die Idee eines Gewissens völlig unbekannt ist?«
»In jeder Kultur gibt es Tabus und die Warnung davor, sie zu verletzen«, widersprach Van Leeuwen. »Etwas oder jemand, der dir sagt, dass du was Falsches tust und gerade dabei bist, gegen die Gebote der Gemeinschaft zu verstoßen. Dabei fällt mir ein – wer hat eigentlich für Zheng Wu die Besorgungen gemacht?! Mijnheer Wu sitzt in seiner Wohnung im Rollstuhl, und sein Herz verzehrt sich nach Ailing, aber wer hat ihm das Essen gebracht, damit sein Magen sich
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