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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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nicht selbst verzehrt? Eine junge Frau, ein junger Mann, sein Vermieter – irgendjemand kannte ihn gut genug, um uns die Fragen zu beantworten, auf die Mijnheer Wu so beharrlich schweigt. Diesen Jemand müssen wir finden.«
    Plötzlich geschah es wieder: Unvermittelt sah er das Gewimmel der Bummler draußen auf der bunt leuchtenden Bühnenbildstraße an sich vorbeiziehen wie Wesen aus einem Science-Fiction-Film, fremdartig und unvertraut. Es war nur ein Moment, nicht mehr als ein paar Sekunden. Einige harte, heftige Herzschläge lang spürte er mit unerbittlicher Schärfe seinen ganzen Verlust. Als würde ihm gerade jetzt erst bewusst, dass es diese Alltäglichkeit, die Welt des Feierabends für ihn nicht mehr gab und nie mehr geben würde – kein gemeinsames Schlendern Arm in Arm, keine kleinen Sorgen, kein Eilen zu einem Ort, zu einem Menschen, auf den man sich freute.
    »Was hast du?«, wollte Gallo wissen.
    »Ich frage mich gerade«, sagte Van Leeuwen, »warum das so sein muss: Warum kann man nicht jemanden verlieren, ohne dass es wehtut?«
    Gallo schwieg.
    » Warum kann man nicht weiterleben wie vorher, nur eben ohne diesen Jemand, den man geliebt hat?«, beharrte Van Leeuwen. »Ohne diese verdammte Lücke?«
    Gallo sagte immer noch nichts.
    »Das Schlimme daran ist«, Van Leeuwen schob die Hände in die Manteltaschen, »dass man so angreifbar wird. Es kommt ganz plötzlich, aber wenn genau in so einem Moment jemand an mir vorbeigehen würde, jemand, den wir vielleicht schon eine Ewigkeit suchen – ein Mörder sogar –, in diesem Moment würde er mir durch die Lappen gehen.«
    »Bestimmt geht das bald vorbei«, meinte Gallo endlich. »Bestimmt ist es nur jetzt so, und in ein paar Wochen oder Monaten stellst du fest, dass die Lücke sich langsam schließt.«
    »Das bezweifle ich«, sagte Van Leeuwen. »Vor allem nachts.«
    Wieder fuhr dicht am Eingang eine Straßenbahn vorbei und scheuchte mit ihrem harten Glockenschlag die Menge von den Gleisen.
    Gallo legte ihm den Arm um die Schultern. »Du glaubst also an die Beichte, an Reue und Vergebung, aber nicht an Trost, ja? An Strafe, aber nicht an Trost?«
    Van Leeuwen seufzte. »Ich weiß auch nicht. Ich weiß nur, dass es nicht genug Trost für alle auf dieser Welt gibt. Gute Nacht, Ton.«
    »Gute Nacht, Bruno.« Gallo ließ ihn los, und sie kehrten der hellen Höhle des Febo den Rücken und traten auf die Straße. »Du gehst doch jetzt nicht etwa zum Bahnhof?«
    Ohne zu antworten, ging Van Leeuwen ein paar Schritte in Richtung Prinsengracht, drehte sich aber noch einmal um und rief: »Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, wie die Straßen hier in Amsterdam heißen, Ton? Elandsgracht? Bloedstraat? Galgenstraat? Die ganze Stadt schreit danach, von Bach in einen Choral gepackt zu werden – Herr, erbarme Dich! «

16
    Auf dem Schuhabstreifer vor seiner Wohnungstür lag eine neue Ausgabe von De Avond! , und als der Commissaris sich bückte, um sie aufzuheben, fiel sein Blick auf die Schlagzeile. Freispruch für Dr. Death , daneben ein Bild eines weißhaarigen Mannes: Doktor Klaas van der Meer vor seiner Klinik in der Nähe von Haarlem. Hast du es also am Ende tatsächlich geschafft!, dachte Van Leeuwen, nicht ohne widerwillige Bewunderung. Er beschloss, diesmal einen Blick in die Zeitung zu werfen, die seit Tagen in ganz Amsterdam gratis verteilt und im Radio, im Fernsehen und an Plakatwänden beworben wurde – ein neues, billiges Abendblatt, auf das die Stadt zweifellos gewartet hatte.
    Er sperrte die Tür auf, hängte seinen Trenchcoat über einen Bügel und ließ den Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode neben der Tür fallen. Im Dunkeln ging er in sein Arbeitszimmer, wo er die Zeitung auf den Schreibtisch legte. Er öffnete das Fenster und blieb einen Moment davor stehen. Aus der Nacht drang ein flüchtiger Laut in sein Zimmer, ein Lachen vielleicht oder ein unterdrückter Schrei. Es konnte auch Musik sein, ein Ton, den die Stadt draußen anschlug – auf den Straßen, in den Hinterhöfen, an den Plätzen, hier im Jordaan oder in Oud West, in De Pijp, OudZuid, im Zentrum, an den Grachten oder unter den Bäumen der Parks, überall, wo Menschen beieinander waren, sich liebten oder stritten. Der Klang der ganzen Stadt in dieser Herbstnacht. Sie ließ ihn steigen und über den Dächern schweben wie einen Papierdrachen unter dem dunkelblauen Himmel.
    Der Luftzug und die rasch dahinziehenden Wolken gaben Van Leeuwen das Gefühl, am Bug eines

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