Totenflut
sicher, ob er nicht unter Schock stand. Doch er hatte nur ein Ziel. Er wollte die Wahrheit erfahren. Er war sich sicher, dass seine Frau die Wahrheit in ihrem Brief geschrieben hatte. Er konnte nicht länger warten. Das Warten hatte hier ein Ende gefunden. Aber die Wahrheit würde vielleicht nicht das sein, was er sich erhoffte. Sie würde keine Erlösung sein.
Frau Brenders Leiche wurde in einen Leichensack gelegt und mit einem Krankenwagen in die Gerichtsmedizin gefahren. Eine Obduktion sollte Aufschluss über ihren Tod geben. Dies war ihre vorletzte Fahrt, bevor der Leichenwagen sie auf den Friedhof brachte. Eine Fahrt, die Folgen haben würde.
Der Krankenwagen hielt in einer kleinen Parkbucht vor dem Eingang der Gerichtsmedizin. Die beiden Fahrer zogen die Liege mit dem schwarzen Leichensack aus dem Wageninnern und schoben ihn durch eine Tür in den weià gekachelten Gang.
In seinem Büro öffnete Schröder den Brief. Er faltete ihn auseinander.
»Das ist ein sehr langer Brief«, stellte Schröder fest.
»Bitte lesen Sie endlich!«, sagte Brender.
Schröders Hände waren feucht. Er schwitzte, und sein Hals fühlte sich rau und trocken an. Er hustete einmal in seine Faust und begann zu lesen.
Ich schreibe dies in dem Wissen, dass sich jetzt alle auf mich stürzen werden und mich zur Schuldigen erklären wollen. Und ich weiÃ, dass dies der einzige Weg ist, dem zu entkommen.
Ich hatte immer Angst, meinem Sohn einmal wieder zu begegnen. Ich habe nicht gewusst, dass er mir folgte, aber irgendwie fühlte ich es. Egal, wo ich war, ich habe mich nie sicher gefühlt. Ich lebte in ständiger Angst.
Aber ich habe doch auch ein Recht auf meine Freiheit. Ich habe doch auch eine Berechtigung für mein Dasein. Mein eigener Mann hielt mich für pervers, behandelte mich wie eine Aussätzige. Aber meine Neigungen waren nun mal da. Ich konnte sie nicht unterdrücken. Es war normal für mich. Das ist es immer noch.
Mein Mann lieà mich im Stich damit und verurteilte mich. Ich war allein. Und in unserem Land konnte man nicht in irgendwelche Clubs gehen, geschweige denn Inserate aufgeben oder im Internet nach dem suchen, was man brauchte. Ich war ganz allein. Und Axel war nun mal da. Es hat sich einfach so ergeben.
Ich bin so furchtbar entsetzt über das, was er getan haben soll. Er war immer ein friedlicher und lieber Junge. Er konnte keinem etwas zuleide tun. Und ich habe ihn geliebt. Er war ein so lustiges aufgewecktes Kind.
Jetzt steht plötzlich die Polizei vor meiner Tür und will mich verantwortlich machen für alles. Ich weià das. Aber es ist doch nicht meine Schuld. Ich weiÃ, dass mir keiner glauben wird, dass ich für alles herhalten muss. Aber jeder ist doch selbst verantwortlich für das, was er tut. Ich habe doch keinen Mörder groÃgezogen.
Diese Frauen tun mir so furchtbar leid. Keine Mutter hört auf, ihren Sohn zu lieben, nicht mal dann, wenn er so schreckliche Dinge getan hat. Aber ich will auch helfen.
Die Polizei fragte mich nach Wasser. Warum ihm Wasser so wichtig sei. Es kam öfter vor, dass wir Wasser im Keller hatten. Manchmal auch sehr hoch. Wenn er ungezogen war und ich ihn da unten einsperren musste, dann stand er manchmal bis zur Hüfte im Wasser oder noch tiefer. Wenn es so weit war, ging ich zu ihm rein und holte ihn zu mir. Ich trocknete ihn ab und wärmte ihn dann bei mir.
Ich drohte ihm damit, ihn für immer dort unten einzusperren, wenn er jemals irgendjemandem etwas erzählen sollte. Da war ein Foto, das ich aus einer Zeitschrift gerissen hatte. Ich zeigte es Axel und sagte, dass er genauso enden würde wie der Mann auf dem Foto. Das hat ihn sehr beeindruckt. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Foto. Ich hatte es schon fast vergessen, doch als ich damals nach Remscheid zog, fand ich es plötzlich in meinem Briefkasten.
Schröder machte eine Pause. Brender fügte die Puzzleteile in seinem Geiste zu einem schrecklichen Bild zusammen. Jetzt erklärte sich alles. Sie hatte ihren Sohn missbraucht. Die eigene Mutter. Sie hatte seinen Axel zerstört, hatte ihn getötet dort unten. Sein kleiner Junge war ahnungslos in den Keller hinabgestiegen. Und er war für immer dort unten geblieben. Eingesperrt hinter Gittern. Im Wasser auf seine Mutter wartend, die ihn retten sollte. Aber das hatte sie nicht getan. Sie hatte ihn getötet. Langsam getötet. Jedesmal wieder.
Schröder
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